Donnerstag, 30. September 2021

MASCHA KALÉKO - HERBSTABEND

 

 


Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.
 
Verlassen stehn Wiese und Weiher,
Es schimmert kein Segel am See.
Am Himmel nur Wildgans und Geier
Verkünden den kommenden Schnee.
 
Schon rüttelt der Wind an der Scheune.
Im Dunkel ein Nachtkäuzchen schreit.
Ich sitze alleine beim Weine
Und vertreib mir die Jahreszeit...
 
Im Gasthaus verlischt eine Kerze.
Verspätet spielt ein Klavier.
- Dem ist auch recht bange ums Herze.
Adagio in Moll - so wie mir.
 
Der Abend ist voller Gespenster,
Es poltert und knackt im Kamin.
Ich schließe die Läden am Fenster
Und nehme die Schlafmedizin.



- Mascha Kaléko -

 

 

 

 


 





DENN WAS WIR GESEHEN HABEN

 

 



DENN WAS WIR GESEHEN HABEN

Denn was wir gesehen haben,
wird in unseren Augen bleiben,
was wir getan haben,
wird in unseren Händen bleiben,
und was wir gefühlt haben,
wird in unseren Seelen bleiben.

- Alessandro Baricco -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Weht der Wind nicht leise...

 

 



Weht der Wind nicht leise
über die Welt dahin?
Eine Wolkenweise.
Über mein Herz dahin.


- Alfred Mombert -
 

 

 

 

Glück ist vielleicht der Augenblick, ...

 

 



Glück ist vielleicht der Augenblick,
wo man die Schönheit des Lebens genießt und würdigend anerkennt.

- Wilhelm Weber-Brauns -

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 30.September 2021

 

 


MARE NOSTRUM


Was hat hienieden noch für mich Gewicht,
Welch Tun bei Tag, nachts welches Traumgesicht?
Die Welt scheint nur ein Minder oder Mehr
Von dir und deinen Ufern, Mittelmeer!


Karl Wolfskehl (1869-1948)

 

 

 

Mittwoch, 29. September 2021

Kalendergedicht, Mittwoch 29.September 2021

 

 

FLÜGELLAHMER VERSUCH



Es schweift der Mond durch ausgestorbne Gassen,
Es fällt sein Schein bestimmt durch bleiche Scheiben.
Ich möchte nicht in dieser Gasse bleiben,
Ich leid es nicht, daß Häuser stumm erblassen.

Doch was bewegt sich steil auf den Terrassen?
Ich wähne dort das eigenste Betreiben,
Als wollten Kreise leiblich sich beschreiben,
Ich ahne Laute, ohne sie zu fassen.

Es mag sich wohl ein weißer Vogel zeigen,
Fast wie ein Drache trachten aufzusteigen,
Dabei sich aber langsam niederneigen.

Wie scheint mir dieses Mondtier blind und eigen,
Es klopft an Scheiben, unterbricht das Schweigen
Und liegt dann tot in Hainen unter Feigen.



Theodor Däubler (1876-1934)

 

 

 

Dienstag, 28. September 2021

Stefan George „Entrückung“ II

 

 


Ich fühle luft von anderem planeten.
Mir blassen durch das dunkel die gesichter
Die freundlich eben noch sich zu mir drehten.

Und bäum und wege die ich liebte fahlen
Dass ich sie kaum mehr kenne und du lichter
Geliebter schatten—rufer meiner qualen--

Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten
Um nach dem taumel streitenden getobes
Mit einem frommen schauer anzumuten.

Ich löse mich in tönen, kreisend, webend,
Ungründigen danks und unbenamten lobes
Dem grossen atem wunschlos mich ergebend.

Mich überfährt ein ungestümes wehen
Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie
In staub geworfner beterinnen flehen:

Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen
In einer sonnerfüllten klaren freie
Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen.

Der boden schüttert weiss und weich wie molke.
Ich steige über schluchten ungeheuer.
Ich fühle wie ich über letzter wolke

In einem meer kristallnen glanzes schwimme--
Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer
Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.


- Stefan George -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Die letzte Sonne des Jahres....

 

 



Die letzte Sonne des Jahres.
Der letzte Schmetterling.
Violett blüht die letzte Distel,
Da wo ich gehe und ging
Im Vorjahr und all die Jahre
Vor diesem letzen Jahr.
Wieder die Abschiedsvorstellung.
Was ist, was wird und war,
Verschwimmt in eines. Verändert
Bin vielleicht nur ich.
Und eines Herbstes septembert
Es ohne mich.
Die letzte Sonne des Jahres.
Der letzte Schmetterling.
Violett blüht die letzte Distel,
Da wo ich gehe und ging.

- Eva Strittmatter - 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





Ganze Sommer lang...

 

 


Ganze Sommer lang
dass ich versuchte
dieses Buch und jenes zu lesen.

Und verfiel nur
den mittäglichen Geräuschen im Park
den Blasen im Teich und wehenden Schatten.

Wenn ich heimging
läuteten meine Schritte im Abend
und ich wusste nichts mehr. Nichts.


- Thilo Krause -

 

 

 

Man muß seine Unvollkommenheit ertragen,...

 

 


Man muß seine Unvollkommenheit ertragen,
um zur Vollkommenheit zu gelangen.

Franz von Sales (1567-1622)

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 28.September 2021

 

 


AUF IHR ABWESEN



Ich irrte hin und her und suchte mich in mir,

und wuste dieses nicht, daß ich ganz war in dir.

Ach! tu dich mir doch auf, du Wohnhaus meiner Seelen!

Komm, Schöne, gieb mich mir, benim mir dieses Quälen!

Schau, wie er sich betrübt, mein Geist, der in dir lebt!

Tötst du den, der dich liebt? Itzt hat er ausgelebt.

Doch gieb mich nicht aus dir! Ich mag nicht in mich kehren.

Kein Tod hat Macht an mir, du kanst mich leben lehren.

Ich sei auch, wo ich sei, bin ich, Schatz, nicht bei dir,

so bin ich nimmermehr seihest in und bei mir.




Paul Flemming (1609-1640)
 

 

 

 

Montag, 27. September 2021

Christoph Meckel „Rede vom Gedicht“

 

 


Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird.
Hier ist die Rede vom Salz, das brennt in den Wunden.
Hier ist die Rede vom Tod, von vergifteten Sprachen.
Von Vaterländern, die eisernen Schuhen gleichen.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird.


Hier ist die Rede vom Blut, das fließt aus den Wunden.
Vom Elend, vom Elend, vom Elend des Traums.
Von Verwüstung und Auswurf, von klapprigen Utopien.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird.


Hier ist die Rede von Zorn und Täuschung und Hunger
(die Stadien der Sättigung werden hier nicht besungen).
Hier ist die Rede von Fressen, Gefressenwerden
von Mühsal und Zweifel, hier ist die Chronik der Leiden.
Das Gedicht ist nicht der Ort, wo das Sterben begütigt
wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird.


Das Gedicht ist der Ort der zu Tode verwundeten Wahrheit.
Flügel! Flügel! Der Engel stürzt, die Federn
fliegen einzeln und blutig im Sturm der Geschichte!


Das Gedicht ist nicht der Ort, wo der Engel geschont wird.




- Christoph Meckel -

 

 

 


 





...denn darin besteht das Leben der Welt, ...

 

 


...denn darin besteht das Leben der Welt, 

daß ein Streben und Erringen und darum ein Wandel ist...



Adalbert Stifter (1805-1868)
 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

  


Zwiesprache

 

 

Zwiesprache

Warum weinst Du?
Nichts ist doch geschehen -
die Hoffnung ist
immer noch Hoffnung,
die Zweifel sind
Zweifel geblieben.
Warum also weinst Du?

Ich weine wohl,
weil meiner stillen Hoffnung
die Worte fehlen
und den drängenden Zweifeln
die Antwort.

Ich weine, weil
in den stummen Nächten
die Hoffnung volle Segel setzt
und an den Klippen
der Zweifel wieder und
immer wieder zebricht.

So sprich endlich! Sprich!


- Jost Renner -
 

 

 

 

Nichts geht verloren,...

 

 


Nichts geht verloren,
alles gibt sich weiter.

- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 27.September 2021

 

 

ENZIAN


Es werden Tage kommen,
Sonnenlose ohne Gelächter.
Brachfelder.
Kein Korn glänzt.

Leichen rollen in den Flüssen,
Die Eisenbahnen sind voll toter Fahrgäste,
Wer ein Herz hat, weint,
Hingebückt über das Jaucheloch.

Kahlkopf und Kohlkopf
Wechseln wie Wild.
Der Sieg ist versiegt,
Viel Teppiche zerfasert.

Eine Tanne
Steht noch vielleicht.
Das Gehörn einer Gemse
Hängt am Abgrund.


Klabund (1890-1928)

 

 

 

Sonntag, 26. September 2021

Kalendergedicht, Sonntag 26.September 2021

 

 


Ich wache noch in später Nacht und sinne,
wie ich dir etwas Liebes sagen möchte,
daß ich dir einen Kranz von Worten flöchte,
daraus du würdest meiner Sehnsucht inne,

die mich nach deiner Gegenwart erfüllet,
als wär' ich nur bei Dir gewahrt vor Sorgen,
als lebt' ich nur in Deinem Blick geborgen,
dem teuren Blick, der mich in Liebe hüllet.


Christian Morgenstern (1871-1914)

 

 

 

Samstag, 25. September 2021

Kalendergedicht, Samstag 25.September 2021

 

 


Uralter Worte kundig

 

Uralter Worte kundig kommt die Nacht;
Sie löst den Dingen Rüstung ab und Bande,
Sie wechselt die Gestalten und Gewande
Und hüllt den Streit in gleiche braune Tracht.

Da rührt das steinerne Gebirg sich sacht
Und schwillt wie Meer hinüber in die Lande.
Der Abgrund kriecht verlangend bis zum Rande
Und trinkt der Sterne hingebeugte Pracht.

Ich halte Dich und bin von Dir umschlossen,
Erschöpfte Wandrer wiederum zu Haus;
So fühl ich Dich in Fleisch und Blut gegossen,

Von Deinem Leib und Leben meins umkleidet.
Die Seele ruht von langer Sehnsucht aus,
Die eins vom andern nicht mehr unterscheidet.



Ricarda Huch (1864-1947)
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Freitag, 24. September 2021

Kalendergedicht, Freitag 24.September 2021

 

 


THÜRINGER HERBST



Kartoffelfeuer rauchten blau
durchs herbstbesonnte Thüringland,
und meine Seele ist so sehr
in Heimweh – ach, so sehr – entbrannt.


Die Heimchen zirpten süß und schrill,
bis alles rings ein Singen war,
und ihre Stimme gar nicht mehr
zu hören in dem Klingen war.


Die Luft war klar, daß fern im Blau
die Leuchtenburg verdämmernd schwamm,
bis sie das Pfluggespann verdeckt,
das herbstklar auf die Höhe kam.



Börries von Münchhausen (1874-1945)

 

 

 

Donnerstag, 23. September 2021

Kalendergedicht, Donnerstag 23.September 2021

 

 

FÜR UND FÜR



Im ersten matten Dämmer thront

Der blasse klare Morgenmond.

 

Der Friede zittert: Ungestüm

Reckt sich der Tag, das Ungetüm,

 

Und schüttelt sich und brüllt und beißt

Und zeigt uns so, was leben heißt.

 

Die Sonne hat den Lauf vollbracht,

Und Abendröte, Mitternacht.

 

Im ersten matten Dämmer thront

Der klare blasse Morgenmond.

 

Und langsam frißt und frißt die Zeit

Und frißt sich durch die Ewigkeit.



Detlev von Liliencron (1844-1909)

 

 

 

Mittwoch, 22. September 2021

Kalendergedicht, Mittwoch 22.September 2021

 

 


HERBSTHAUCH


Herz, nun so alt und noch immer nicht klug,
Hoffst du von Tagen zu Tagen,
Was dir der blühende Frühling nicht trug,
Werde der Herbst dir noch tragen!

Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Immer zu schmeicheln, zu kosen.
Rosen entfaltet am Morgen sein Hauch,
Abends verstreut er die Rosen.

Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Bis er ihn völlig gelichtet.
Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch,
Was wir geliebt und gedichtet.


Friedrich Rückert (1788-1866)
 

 

 

 

Dienstag, 21. September 2021

Kalendergedicht, Dienstag 21.September 2021

 

 

 DAS HAUS

Vor meinen Blicken tat ein Hang sich auf,
Sanft hügelan, und ich vernahm ein Klingen,
Im Brunnen singend eines Wassers Lauf...
Da wollte mir das Herz beinah zerspringen.

Und dem entbehrten, fast verlornen Bild
Entgegen lief die Seele wie auf Flügeln,
Dem Haus, dem Dach, dem ruhenden Gefild,
Den frohen Stimmen, rufend von den Hügeln.

Und mögt ihr so entfernt, entrissen sein,
Verloren ganz, wo euch kein Aug mehr fände -
Es weiß zu euch den Weg mein Traum allein.
Ich harre aus. Nur Einer sieht das Ende.


Henry von Heiseler (1875-1928)
 

 

 

 

Montag, 20. September 2021

Kalendergedicht, Montag 20.September 2021

 

 


paprika mamrika


seit drei tagen kann sie das r und
wie sagte sie „paprika“ nach der kita
„mamrika“ wir lachten liefen riefen
ros: fahrradkringer kaufen zur berohnung
währte sie statt rosa rirryfee eine braue
mit maus danach saßen wir im café
sie aß cheesecake wir spierten „große“
sprich machten konversation unter
schaukernden pratanen war sie doch im theater
der rote drache mit den nicht mehl
glünen augen ... und erzährte von feuer
und schreichen, herrrich war
das reben in diesem herbst


Ulrike Draesner (*1962)
 

 

 

 

Sonntag, 19. September 2021

Kalendergedicht, Sonntag 19.September 2021

 

 


Verklärter Herbst


Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
Das geht in Ruh und Schweigen unter.


Georg Trakl (1887-1914)

 

 

 


 

 

 

 

 

Samstag, 18. September 2021

Kalendergedicht, Samstag 18.September 2021

 

 


AUF EINEM KIRCHTURM



Ein Glockentonmeer wallet

Zu Füßen uns und hallet

Weit über Stadt und Land.

So laut die Wellen schlagen,

Wir fühlen mit Behagen

Uns hoch zu Schiff getragen

Und blicken schwindelnd von dem Rand.



Eduard Mörike (1804-1875)
 

 

 

 

Freitag, 17. September 2021

Kalendergedicht, Freitag 17.September 2021

 

 


Wer schneller sich will als andere sputen,
verfehlt nicht selten ganz sein Ziel:
Wißt, eine Uhr, die in fünfzig Minuten
die Stunde zurücklegt, taugt nicht viel.

Julius Stettenheim (1831-1916) 

 

 

 

Donnerstag, 16. September 2021

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE - WERT DES WORTES


 

 
Worte sind der Seele Bild –
Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten!
Sagen herbe, deuten mild,
Was wir haben, was wir hatten. –
Was wir hatten, wo ists hin?
Und was ist's denn, was wir haben? –
Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn
Haschen wir des Lebens Gaben.


- Johann Wolfgang von Goethe - 











"Es beginnen die Spätsommertage...

 

 


"Es beginnen die Spätsommertage, jene Tage, die man festhalten möchte,
und bei denen man nicht genau weiß, wo der Sommer aufhört und der Herbst beginnt"

- Kurt Tucholsky -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Römische Fontäne (Borghese)

 

 


Römische Fontäne
(Borghese)

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Hiemweh, Kreis aus Kreis,
nur manhcmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.



- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

Es gibt mehr Poesie ...

 

 


Es gibt mehr Poesie als wir ahnen in den Menschenherzen,
nur daß sie in vielen stumm geworden ist.

Helene Gräfin von Waldersee (1850-1917)

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 16.September 2021

 

 

DAS BLEIBENDE


Solang noch der Tatrawind leicht
Slovakische Blumen bestreicht,
Solang wirken Mädchen sie ein
In trauliche Buntstickerein.

Solang noch im bayrischen Wald
Die Axt im Morgengraun hallt,
Solang auch der Einsame sitzt,
Der Gott und die Heiligen schnitzt.

Solang auf ligurischer Fahrt
Das Meer seine Fischer gewahrt,
Solang wird am Strande es schaun
Die spitzenklöppelnden Fraun.

Ihr Völker der Erde, mich rührt
Das Bleibende, das ihr vollführt.
Ich selbst, ohne Volk ohne Land,
Stütz nun meine Stirn in die Hand.


Franz Werfel (1890-1945)
 

 

 

 

Mittwoch, 15. September 2021

Kalendergedicht, Mittwoch 15.September 2021

 

 


Selbstporträt

Nur Wenigen bin ich sympathisch,
Denn ach, mein Blut rollt demokratisch
Und meine Flagge wallt und weht:
Ich bin nur ein Tendenzpoet!

Auf Reime bin ich wie versessen,
Drum lob ich plötzlich die Tscherkessen
Und wüst durch mein Gehirn scherwenzen
Verrückt gewordene Sentenzen.

Mein Blut rollt schwarz, mein Herz schlägt matt,
Mein Hirn hat noch nicht ausgegoren,
Denn meine gute Mutter hat
Mich hundert Jahr zu früh geboren!

(1885)


Arno Holz (1863-1929)

 

 

 

Dienstag, 14. September 2021

HERMANN HESSE - SPÄTSOMMER (1940)

 

 


Noch schenkt der späte Sommer Tag um Tag
Voll süßer Wärme. Über Blumendolden
Schwebt da und dort mit mildem Flügelschlag
ein Schmetterling und funkelt sammetgolden.

Die Abende und Morgen atmen feucht
Von dünnen Nebeln, deren Naß noch lau.
Vom Maulbeerbaum mit plötzlichem Geleucht
Weht gelb und groß ein Blatt ins sanfte Blau.

Eidechse rastet auf besonntem Stein,
Im Blätterschatten Trauben sich verstecken.
Bezaubert scheint die Welt, gebannt zu sein
In Schlaf, in Traum, und warnt dich, sie zu wecken.

So wiegt sich manchmal viele Takte lang
Musik, zu goldener Ewigkeit erstarrt,
Bis sie erwachend sich dem Bann entrang
Zurück zu Werdemut und Gegenwart.

Wir Alten stehen erntend am Spalier
Und wärmen uns die sommerbraunen Hände.
Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende,
Noch hält und schmeichelt uns das Heut und Hier.


- Hermann Hesse -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

die zerknitterten nächte...

 

 



die zerknitterten nächte
tragen die liebe aus den tagstunden
durch ihr schützendes dunkel
sie führen die aufgenommene spur
wie eine zur rose werdende zeile mit sich
die vernarbten städte
legen das verlorene offen wie ein geständnis
in die schächte der straßen
dort wohnen die entkommenen sehnsüchte
nach unversehrtheit und blühender zeit


- Hermann Josef Schmitz -

 

 

 

"Das Leben ist...

 

 

"Das Leben ist eine Balance zwischen Festhalten und Loslassen"

- Rumi -
 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Bald bin ich licht, bald bin ich trüb,...

 

 


Bald bin ich licht, bald bin ich trüb,
bald hart, bald weich, dann bös, dann gut.
Bin Sonn und Vogel, Staub und Wind,
so Mond als Kerze, so Strom wie Glut,
bin arger Geist, bin Engelkind -
Alles, alles ist gut.

-  Dschalal ad-Din Muhammad Rumi -

 

 

 

„Das, worauf es im Leben ankommt,...

 

 


„Das, worauf es im Leben ankommt, können wir nicht vorausberechnen.
Die schönste Freude erlebt man immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hat.“


- Antoine de Saint-Exupéry -
 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 14.September 2021

 

 

NACH EINEM REGEN


Sieh, der Himmel wird blau;
die Schwalben jagen sich
wie Fische über den nassen Birken.
Und du willst weinen?

In deiner Seele werden bald
die blanken Bäume und blauen Vögel
ein goldnes Bild sein.
Und du weinst?

Mit meinen Augen
seh ich in deinen
zwei kleine Sonnen.
Und du lächelst.


Richard Dehmel (1863-1920)

 

 

 

Montag, 13. September 2021

Erich Kästner - Der September

 

 


DER SEPTEMBER


Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.

Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
und bunten Herden in den Stall.

Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.



- Erich Kästner -

 

 

 


 





orte die wir lieben

 

 


orte die wir lieben

orte die wir lieben, können wir nie verlassen
orte die wir lieben, existieren nur durch uns
orte die wir lieben gemeinsam lieben

dieses zimmer, ist es wirklich ein zimmer oder eine umarmung?
was liegt hinter dem fenster, eine straße oder jahre?
selbst das fenster ist ein abdruck unserer ersten
nimmer enden wollenden berührung

und diese wand begrenzt nicht das zimmer sondern die nacht
die nacht als du angst hattest vor deinem eigenen licht

und diese tür führt zu jenem nachmittag
als du dich in meine erinnerung branntest
so wie sich lava in die erde brennt
sie überlebt die ewigkeit

wenn du gehst
schließt sich der raum
sieh nicht zurück

orte die wir lieben verlassen wir nie




- Rea Revekka Poulharidou -
 

 

 

 

Wie nötig ist's,...

 

 


Wie nötig ist's, in der jetzigen Zeit 

ein angenehmes Zuhause zu haben.


- Johann Wolfgang von Goethe -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 


Frieden

 
 

 

Frieden


Sitzen still im Zimmer –
Ich und Du
Unsere Liebe redet...
Sonst herrscht tiefe Ruh.
Und wenn beide müde –
Ich und Du,
Küssen Deine Lippen
Meine Augen zu.


Edlef Köppen (1893-1939)

 

 

 

„Das wichtigste Umweltproblem...

 

 


„Das wichtigste Umweltproblem ist eines das selten genannt wird 

und das ist das Problem, einer ethischen Erhaltung, in unserer Kultur.“


Gaylord Nelson (1916-2005)
 

 

 

Kalendergedicht, Montag 13.September 2021

 

 


IM REGEN


Der Tag ist blass vom Regen.
Man geht und kommt nicht weit.
Ich trage deinetwegen
Viel Traurigkeit.

Ich gehe mit hängenden Händen
Den Rändern nach zum See.
Dort unten muß alles enden,
Leid und Allee.

Wie reiten tief die Vögel!
Sie lassen vom Winde sich drehn.
Der Regen zerschlägt die Segel,
Mich lässt er stehn.


Silja Walter (1919-2011)

 

 

 

Sonntag, 12. September 2021

Kalendergedicht, Sonntag 12.September 2021

 

 


Seelilien


 Einmal war ich eine Blume
- nur einmal war ich ein Traum
 der in Märchen herzen wohnte.
 Da war ich glücklich!
 Und nun bin ich ein Mensch,
 lebe wie Menschen, leide, liebe…
 sehe die Sonne in ihrem Gold
 und den Tag,
 und sehe das Silber der Sterne
 und den Glanz des Mondes
 und den Sammet der Nacht
 …und muß doch immer weinen …
 was ich wohl später werde?


Edlef Köppen (1893-1939)

 

 

 

Samstag, 11. September 2021

Kalendergedicht, Samstag 11.September 2021

 

 


DER DOPPELTE MITAUSDRUCK


Silbenmaß, ich weiche dir nicht, behaupte mich, ziehe
Dir mich vor! „Wohlklang, ich liebe das Streiten nicht. Besser
Horchen wir jeder mit wachem Ohr dem Gesetz und vereinen
Fest uns. Wir sind alsdann die zweite Seele der Sprache.“


Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803)

 

 

 

Freitag, 10. September 2021

BETTINA VON ARNIM - AUF DIESEM HÜGEL

 

 


Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
Was ist's, worin sich hier der Sinn gefällt?
 
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist's, was mir den Blick gefesselt hält.
 
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinnen meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.


- Bettina von Arnim -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Aus einem Gesträuch...

 

 


Aus einem Gesträuch
in einer mystischen Ruine
eine weiße Blume.
Morgens
bringt sie der Sonne
ihre Weihegabe dar.

Am Abend
unter einem Himmel voller Schicksale
liest sie die Sterne.

- Fuad Rifka -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





IN STILLEN STUNDEN SINN’ ICH OFT

 

 


IN STILLEN STUNDEN SINN’ ICH OFT


In stillen Stunden sinn’ ich oft,
was mir so sehnlich bangt und graut,
wenn unvermerkt und unverhofft
ein süßer Traum mich übertaut.
Weiß nicht, was ich hier träum’ und sinn’,
weiß nicht, was ich noch leben soll;
– und doch, wenn ich so selig bin,
schlägt mir mein Herz so sehnsuchtsvoll.


- Friedrich Wilhelm Nietzsche -

 

 

 

Nutze die Zeit:

 

 


Nutze die Zeit: sie entgleitet dir schnell mit stürmischen Schritten,
keine, die folgt, ist so gut, wie es die frühere war.

Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.)

 

 

 

Kalendergedicht, Freitag 10.September 2021

 

 

TOTE STADT


 Über verwaiste, graue Straßen kriecht das Grauen
 langsam und schleimig und voll fetter Gier.
 Bald drängt es den dicken Schädel durch eine zertretene Tür,
 glotzt die toten Wände an, nagt an den verkohlten Schwellen,
 tastet mit nassen Fingern über den Leib der Leichen
 und leckt das zerrinnende Blut.
 Bald streckt es die schwarzen Arme durch zerschlagene Fenster
 und klopft die letzten Scherben aus den Rahmen
 daß sie gellend am Stein zerspringen.
 Bald reibt es sich gähnend an den Häuserecken
 und stürzt die letzten Pfeiler krachend um
 und grinst vor Wollust.
 Und manchmal lacht es. Und dann bebt die Stadt.



Edlef Köppen (1893-1939)

 

 

 

Donnerstag, 9. September 2021

FRIEDRICH NIETZSCHE - LIEDER

 

 
Mein Herz ist wie ein See so weit
drin lacht dein Antlitz sonnenlicht
in tiefer, süßer Einsamkeit,
wo leise Well’ an Well’ sich bricht.

Ist’s Nacht, ist’s Tag? Ich weiß es nicht.
Lacht doch auf mich so lieb und lind
dein sonnenlichtes Angesicht,
und selig bin ich wie ein Kind.


Es ist der Wind um Mitternacht,
der leise an mein Fenster klopft.
Es ist der Regenschauer sacht,
der leis an meiner Kammer tropft.

Es ist der Traum von meinem Glück,
der durch mein Herz streift wie der Wind.
Es ist der Hauch von deinem Blick,
der durch mein Herz schweift regenlind.


Einsam durch den düsterblauen
nächt’gen Himmel seh’ ich grelle
Blitze zucken an den Brauen
schwarzgewölbter Wolkenwelle.
Einsam loht der Stamm der Fichte
fern an duft’ger Bergeshalde.
Drüber hin im roten Lichte
zieht der fahle Rauch zum Walde.
In des Himmels fernes Leuchten
rinnt der Regen zart und leise,
traurig, schaurig, eigner Weise. –


In deinen tränenfeuchten
Augen ruht ein Blick,
der schmerzlich, herzlich
dir und mir verwehte Leiden,
verlorne Stunden und zerronnen Glück
zurückrief beiden. –


In stillen Stunden sinn’ ich oft,
was mir so sehnlich bangt und graut,
wenn unvermerkt und unverhofft
ein süßer Traum mich übertaut.

Weiß nicht, was ich hier träum’ und sinn’,
weiß nicht, was ich noch leben soll;
– und doch, wenn ich so selig bin,
schlägt mir mein Herz so sehnsuchtsvoll.



- Friedrich Nietzsche -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Alles bleibt oberflächlich,...

 

 

Alles bleibt oberflächlich, wenn davon das Herz nicht berührt ist.
Denn was uns wirklich erfüllt, wird immer vom Herzen erkannt und ist nie das,
was wir uns einreden. Das Herz sieht eben mehr.

- Roman Pestak -

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

LEBENSRÄTSEL

 

 


LEBENSRÄTSEL


Ich erscheine mir als Luftspiegelung.
Ungefähr. Schon vorbei. Nicht genau zu beschreiben.
Hier und da einer Liebe Erinnerung
Mag in dem und jenem von mir übrigbleiben.

Und das Lebensrätsel noch ungeklärt.
Und kein Ansatz zur Lösung. Ein Nichts, doch
verschleiert,
Ist das, was liebt und was Liebe erfährt
Und was in uns Auferstehungen feiert.

Ich weiß nichts von mir. Ich bin mir zu flüchtig.
Eine Luftspiegelung. Ich ahne mich nur.
Und ich bin doch wer weiß wie nach Wirklichkeit süchtig
Und suche im Flugsand nach meiner Spur.


- Eva Strittmatter -

 

 

 

„Fragt euch, ob ihr glücklich seid, ...

 

 


„Fragt euch, ob ihr glücklich seid, 

und ihr werdet aufhören, es zu sein.“


- John Stuart Mill -

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 9.September 2021

 

 


Ellengröße


Die Pappel spricht zum Bäumchen:
"Was machst du dich so breit
Mit den geringen Pfläumchen?"

Es sagt: "Ich bin erfreut,
Dass ich nicht bloß ein Holz,
Nicht eine leere Stange!"

"Was!", ruft die Pappel stolz,
Ich bin zwar eine Stange,
Doch eine lange, lange!"


Abraham Emanuel Fröhlich (1796-1865)

 

 

 

Mittwoch, 8. September 2021

Robert Gernhardt ♪ Verdrehter Kopf ♪♫ deaprojekt





Das muss ich erst hinterfragen,
sagt der Kopf

Ich glaube, sagt die Liebe
Das kann ich nicht so stehen lassen,
sagt der Kopf

Ich vertraue, sagt die Liebe
Das wird mich Kopf und Kragen kosten,
sagt der Kopf

Ich liebe, sagt die Liebe
Und wenn alle so dächten wie du?
fragt der Kopf

Komm, sagt die Liebe
Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht,
klagt der Kopf

Am Arsch, sagt die Liebe.



Robert Gernhardt (13.12.1937-30.6.2006)













 

Alles, was lange währt, ...

 

 


Alles, was lange währt,
ist leise.

- Joachim Ringelnatz -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





ODER WAREN ES NEUN

 

 


ODER WAREN ES NEUN


Vielleicht hatten wir nur sieben Nächte
ich weiß nicht
ich habe sie nicht gezählt
wie hätte ich sie auch zählen können.
Vielleicht nicht mehr als sechs
Oder waren es neun.
Ich weiß nicht
aber sie waren so viel wert
wie die allerlängste Liebe.
Vielleicht kann man
mit vier oder fünf Nächten wie diesen
Aber genau solchen wie diesen
vielleicht
kann man leben
wie mit einer langen Liebe
ein ganzes Leben.


- Idea Vilarino -

 

 

 

„Nicht der Besitz,...

 

 


„Nicht der Besitz, nur das Enthüllen,
Das leise Finden nur ist süß.“

- Christoph August Tiedge -
 

 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 8.September 2021

 

 

MEINEN WERTEN FEINDEN


Die Feinde haben mich weise gemacht,
- Die guten Feinde!
Erst hab ich gebrummt, dann hab ich gelacht
Der grimmen Gemeinde.

Sie haben mir, was ich bin, gezeigt,
- Die lieben Leute!
Nun weiß ich, wie man lächelt und schweigt.
Wer haßt mich heute?


Otto Julius Bierbaum (1865-1910)

 

 

 

Dienstag, 7. September 2021

ERICH FRIED - WORTE

 

 

Wenn meinen Worten die Silben ausfallen vor Müdigkeit
und auf der Schreibmaschine die dummen Fehler beginnen
wenn ich einschlafen will und nicht mehr wachen zur täglichen Trauer
um das was geschieht in der Welt und was ich nicht verhindern kann

beginnt da und dort ein Wort sich zu putzen und leise zu summen
und ein halber Gedanke kämmt sich und sucht einen anderen
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht
und den halben Gedanken an der Hand nimmt und sagt zu ihm: Komm

Und dann fliegen einigen von den müden Worten
und einige Tippfehler die über sich selber lachen
mit oder ohne die halben und ganzen Gedanken
aus dem Londoner Elend über Meer und Flachland und Berge
immer wieder hinüber zur selben Stelle

Und morgens wenn du die Stufen hinuntergehst durch den Garten
und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst
kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören
ein wenig verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren
und immer ganz dumm vor Glück daß sie wirklich bei dir sind



- Erich Fried -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Diese wilde kleine Freude...

 

 


Diese wilde kleine Freude
hinter den Dingen am Wegrand -

- Angelica Seithe -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





Zwischen all den ...

 

 


Zwischen all den
Halbtoten und den
fast ganz Toten
sind nur die Lieben-
den noch am Leben.

Was braucht man, um
einer von ihnen zu
sein?

Vielleicht gar nichts,
außer ein kindliches
Staunen für den Funken,
der in der Nacht
tanzt.
Und Hingabe,
die nicht rechnet.


- Roman Pestak -
 

 

 

 

„Fürchte nichts und niemanden...

 

 


„Fürchte nichts und niemanden.
Das Teuerste in dir kann durch nichts
und niemanden leiden.“

- Tolstoi -

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 7.September 2021

 

 

DER HIRSCH

Der Hirsch, der dunkel aus dem Walde tritt,
Hat einen stillen und gewissen Schritt.
Ein leises Knacken im verdorrten Holz,-
Dann steht das Bild aus Stille, Kraft und Stolz.
Und meine Seele kommt und wartet mit.

Und wie der Hirsch nach frischem Wasser schreit,
Schreit meine Seele nach dem Herrn der Zeit.
Sie neigt sich tief, trinkt sich am Bache satt,
Und wie der Hirsch, der sich gesättigt hat,
Geht sie gelassen durch die Dunkelheit.


Siegbert Stehmann (1912-1945)

 

 

 

Montag, 6. September 2021

Kalendergedicht, Montag 6.September 2021

 

 

HEIMAT


O Heimatdorf, in grüner Berge Schoß,
der Welt so klein - für mich so reich, so groß!

Noch krönt der Eichenwald deinen Felsengrat,
noch zieht sich längs des Stroms mein Lieblingpfad -

Viel tausendmal ich träumend ihn beschritt,
die Helden meiner Märchen gingen mit.

Mir ist als säh ich sie auch heut dort ziehn,
doch scheu, als wollten sie vor mir entfliehn,

und plötzlich fühl ichs durch den Sinn mir wehn,
als müßt ich ein Verlornes suchen gehn,

und suchend irre ich talaus, talein -
umsonst! Da faßt es mich wie dumpfe Pein -

Von Tränen wird mein Herz und Auge schwer:
Es war ein glücklich Kind - ich finds nicht mehr!



Marie Eugenie delle Grazie (1864-1931)
 

 

 

 

Sonntag, 5. September 2021

Kalendergedicht, Sonntag 5.September 2021

 

 


DER LIEBSTEN NAME
1838


Auf's Neu' hab' ich den Baum gesehen,
In den ich Deinen Namen schnitt.
O hohe Lust, ihr süßen Wehen,
Die mit dem Anblick ich durchschritt.

Doch ach, verwachsen war die Rinde,
Dein lieber Name d'rauf verschwand;
Was ich auch Altbekanntes finde,
Den alten Namen ich nicht fand!

Jetzt lebt Dein Nam' als Geist im Baume,
Der sich durch alle Zweige schlingt,
Und in dem blätterreichen Raume
Aus jedem Rauschen wiederklingt.

Und schlaf' ich unter diesem Baume,
Rauscht's leis durch meinen Schlummer mir:
O was erschiene mir im Traume,
Wenn nicht ein liebes Bild von Dir!


Ferdinand Falkson (1820-1900)

 

 

 

 

Kalendergedicht, Samstag 4.September 2021

 

 


Die Großen gehn zum Ziel auf graden Gleisen,
die Größten kommen ihm durch Irrtum nah:
Die wollen ganz verkehrt nach Indien reisen
und finden unterwegs Amerika.


Ludwig Fulda (1862-1939)

 

 

 

Freitag, 3. September 2021

Und auf einmal steht es neben dir ♪♫ deaprojekt

 

 


Und auf einmal merkst du äußerlich:
Wieviel Kummer zu dir kam,
Wieviel Freundschaft leise von dir wich,
Alles Lachen von dir nahm.
Fragst verwundert in die Tage.
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert Deine Klage ...
Du fragst niemanden mehr.
Lernst es endlich, dich zu fügen,
Von den Sorgen gezähmt.
Willst dich selber nicht belügen
Und erstickst, was dich grämt.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang ausgedehnt.
Und auf einmal ...
Steht es neben dir,
An dich angelehnt
Das, was du so lang ersehnt.


- Joachim Ringelnatz -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

(...) und seltsam, o frierende blasse Seele,...

 



(...)

und seltsam, o frierende blasse Seele,
ein Rosenschimmer ...

... ein Rosenschimmer,
und alles beginnt von neuem ..."


D. H. Lawrence (1885 - 1930)

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





Trug (Meconopsis cambrica)

 

 


Trug (Meconopsis cambrica)


Was wolltest Du mir scheinen -
ein Licht im Dunkel meiner Wälder?
Ein heller Traum, der mich behütet
und ganz sorglos schlafen läßt?
Eine Antwort auf meine stillen Fragen?
Du bist all dies niemals gewesen,
doch warst Du für mich wunderschön.


- Jost Renner -

 

 

 

Wer die Wahrheit...

 

 


Wer die Wahrheit nicht
sehen will, muss lügen.

- Roman Pestak -

 

 

 

Kalendergedicht, Freitag 3.September 2021

 

 


DER HAUER


Die breite Brust schweratmend hingestemmt,
hämmert er Schlag für Schlag die Eisenpflöcke
in das Gestein, bis aus dem Sprung der Blöcke
Staub sprudelt und den Kriechgang überschwemmt.

Im schwanken Flackerblitz des Grubenlichts
blänkert der nackte Körper wie metallen;
Schweißtropfen stürzen, perlenrund im Fallen,
aus den weit offenen Poren des Gesichts.

Der Hauer summt ein stummes Lied zum Takt
des Hammers und zum Spiel der spitzen Eisen
und stockt nur, wie von jähem Schreck gepackt,

wenn hinten weit im abgeteuften Stollen
Sprengschüsse dumpf wie Donnerschläge rollen,
und stockt und läßt die Lampe dreimal kreisen.



Paul Zech (1881-1946)
 

 

 

 

Donnerstag, 2. September 2021

Kalendergedicht, Donnerstag 2.September 2021

 

 


ERHELLTE FERNE


Nach entladenem Wetterregen
hat die Ferne sich erhellt,
und der Alpen Zug entgegen
siehst du einsam dich gestellt

Die im Wolkenduft verschwammen,
tief erblauend stehn sie da
und so eng geschart zusammen,
wie sie nie dein Auge sah.

Vor den wild getürmten Massen
hebt ein Dorf sich friedlich ab -:
Deinem Sehnen überlassen
lehnst du still am Wanderstab.


Martin Greif (1839-1911)
 

 

 

 

Mittwoch, 1. September 2021

HERMANN HESSE - GONDELGESPRÄCH

 

 


Was ich träume, fragst du? Daß wir beide
Gestern starben und im weißen Kleide,
Weiße Blumen in den losen Haaren,
In der schwarzen Gondel meerwärts fahren.
Glocken läuten fern vom Kampanile,
Werden leiser, werden bald vom Kiele
Übergurgelt, den die Wellen schlagen.
Weiter meerwärts werden wir getragen,
Dorthin, wo mit himmelhohen Masten
Schiffe schwarz am Horizonte rasten,
Wo die Fischerbarken mit den feuchten
Rot und gelben Segeln tiefer leuchten,
Wo die blauen großen Wogen brausen,
Wo die wilden Schiffermöwen hausen.
Dort, durch eines Wassertores blauen Rachen
Segelt abwärts unser leichter Nachen
In die Tiefen, deren weite Räume
Fremd erfüllen die Korallenbäume,
Wo in Muscheln, die verborgen glimmern,
Bleiche Riesenperlen köstlich schimmern,
Scheue Silberfische glänzen leise
Uns vorbei und lassen Farbengleise,
Deren Furchen andre überglänzen
Mit den goldenroten, schlanken Schwänzen.
Träumend dort in meilentiefer Tiefe
Wird uns sein, als ob zuweilen riefe
Einer Glocke Ton, ein Windeswehen,
Deren fernes Lied wir nicht verstehen,
Deren fernes Lied von engen Gassen
Redet, die wir langeher verlassen,
Und von Dingen, die wir ehmals kannten,
Und von Wegen, die wir ehmals fanden.

Einer Straße, eines Kircheninnern
Werden wir verwundert uns erinnern,
Eines Gondelrufs und vieler Namen,
Die wir manchesmal vorzeit vernahmen.
Lächelnd, wie im Schlaf die Kinder pflegen,
Werden wir die stummen Lippen regen,
Und das Wort wird, eh wir's können lallen,
In Vergessenheit und Traumtod fallen.
Über uns die großen Schiffe gleiten,
Dunkle Barken bunte Segel breiten,
Weisse Vögel in der Sonne fliegen,
Blanke Netze auf dem Wasser liegen,
Und darüber hoch und rein gezogen
Eines Sonnenhimmels blauer Bogen.


- Hermann Hesse -

 

 

 


 





Daran glauben...

 

 


Daran glauben, das ist das Wunder!


Emanuel Wertheimer (1846-1916)

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

HELLES LACHEN

 

 


HELLES LACHEN


Er reiste viel.
So verwischte er die Erfahrung
der Ortlosigkeit.
Ein Genießer des Augenblicks,
begabt zur Illusion
einer sich selbst genügenden
Gegenwart.
Solange es dauert, sagte er,
und die Furcht
ließ ihn lachen - heller
als ich je einen Menschen
lachen hörte.


- Rainer Malkowski -
 

 

 

 

Weiß ich denn noch...

 

 


Weiß ich denn noch, daß ich gemacht bin für die Freude?

Phil Bosmans (1922-2012)

 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 1.September 2021

 

 


SO REGNET ES SICH LANGSAM EIN


So regnet es sich langsam ein
Und immer kürzer wird der Tag und immer
Seltener der Sonnenschein ...

Ich sah am Waldrand gestern ein paar Rosen stehn ..
Gib mir die Hand und komm ...
Wir wollen sie uns pflücken gehn ...

Es werden wohl die letzten sein!



Cäsar Flaischlen (1864-1920)