Freitag, 10. September 2021

Kalendergedicht, Freitag 10.September 2021

 

 

TOTE STADT


 Über verwaiste, graue Straßen kriecht das Grauen
 langsam und schleimig und voll fetter Gier.
 Bald drängt es den dicken Schädel durch eine zertretene Tür,
 glotzt die toten Wände an, nagt an den verkohlten Schwellen,
 tastet mit nassen Fingern über den Leib der Leichen
 und leckt das zerrinnende Blut.
 Bald streckt es die schwarzen Arme durch zerschlagene Fenster
 und klopft die letzten Scherben aus den Rahmen
 daß sie gellend am Stein zerspringen.
 Bald reibt es sich gähnend an den Häuserecken
 und stürzt die letzten Pfeiler krachend um
 und grinst vor Wollust.
 Und manchmal lacht es. Und dann bebt die Stadt.



Edlef Köppen (1893-1939)