Montag, 18. März 2024

Kalendergedicht, Montag 18.März 2024

 

 

Der Wolkenbaum


Hoch im Dunkel steht ein Wolkenbaum,
Darin wohnen hundert Vögel grau,
Schmettern stumm ihr geisterhaftes Lied.
Seinen Fuss umfunkelt Wiesentau.
Seinen Stamm umwebert Nebelflaum.
Seinem fahlen Wipfelwerk entflieht der Mond ..


Christian Morgenstern (1871-1914)

 

 

 

Sonntag, 17. März 2024

Kalendergedicht, Sonntag 17.März 2024

 

 

Kleines Liebeslied


Vor vielen tausend Jahren,
als wir noch beide Engel waren,
hab ich dich schon geliebt.
Und daß dein liebes Angesicht
der strenge Gott noch immer nicht
in meine Hände gibt,
macht abertausend Jahr bereit
für meiner Liebe Ewigkeit.


Else Rüthel (1899-1938)
 

 

 

 

Samstag, 16. März 2024

Kalendergedicht, Samstag 16.März 2024

 

 

Frühlingsnacht


Übern Garten durch die Lüfte
Hört ich Wandervögel ziehn,
Das bedeutet Frühlingsdüfte,
Unten fängts schon an zu blühn.

Jauchzen möcht ich, möchte weinen,
Ist mirs doch, als könnts nicht sein!
Alte Wunder wieder scheinen
Mit dem Mondesglanz herein.

Und der Mond, die Sterne sagens,
Und in Träumen rauschts der Hain,
Und die Nachtigallen schlagens:
Sie ist deine, sie ist dein!



Joseph von Eichendorff (1788-1857)

 

 

 

Freitag, 15. März 2024

Kalendergedicht, Freitag 15.März 2024

 

 

Kleine Lehre

Des Lebens bunte Flur
Ist eine Wildniß nur,
Wenn nicht mit weiser Güte,
Ein edler Freund die Blüte,
Die zarte Liebe trägt,
In unserm Herzen pflegt.


Elisa von der Recke (1754-1833)

 

 

 

Donnerstag, 14. März 2024

Kalendergedicht, Donnerstag 14.März 2024

 

 

Frische Morgenlüfte weht

Frische Morgenlüfte weht
hell aus Osten zu mir hernieder,
Licht, das glänzend die Wolken durchgeht,
mir auch salbe du Haupt und Glieder.
Aus dem schwarzen Ackerboden
quillt der Erde Duft und Rauch,
dringe neu in meine Seele,
wilder herber Lebenshauch.
Erd und Sonne gießen leuchtend
ineinander ihren Saft,
und aus diesem Weine schöpf ich
ihre ganze alte Kraft.


Julius Hart (1859-1930)

 

 

 

Mittwoch, 13. März 2024

Kalendergedicht, Mittwoch 13.März 2024

 

 

Frühling


Sonne. Und noch ein bißchen aufgetauter Schnee
und Wasser, das von allen Dächern tropft,
und dann ein bloßer Absatz, welcher klopft,
und Straßen, die in nasser Glattheit glänzen,
und Gräser, welche hinter hohen Fenzen
dastehen, wie ein halbverscheuchtes Reh ...

Himmel. Und milder, warmer Regen, welcher fällt,
und dann ein Hund, der sinn- und grundlos bellt,
ein Mantel, welcher offen weht,
ein dünnes Kleid, das wie ein Lachen steht,
in einer Kinderhand ein bißchen nasser Schnee
und in den Augen Warten auf den ersten Klee ...

Frühling. Die Bäume sind erst jetzt ganz kahl
und jeder Strauch ist wie ein weicher Schall
als erste Nachricht von dem neuen Glück.
Und morgen kehren Schwalben auch zurück.



Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

 

 

 

Dienstag, 12. März 2024

Kalendergedicht, Dienstag 12.März 2024

 

 

Fragen der Nacht

Die Sterne sind so seltsam in der Nacht,
Sie zeigen Wege, die ich nie gewandert bin,
Sie locken mich zu fernen, fremden Zielen hin,
An die ich nie im Sonnenlicht gedacht.

Zuweilen denk ich, daß sie Boten seien,
Gerüstet schon, die Seele zu befreien,
Doch jeder Stern ist wieder eine Welt,
Aus der ein Strahl auf unsre Erde fällt.


Anna Behrens-Litzmann (1850-nach 1913)

 

 

 

Montag, 11. März 2024

Kalendergedicht, Montag 11.März 2024

 

 

Vorfrühling


In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus.
Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen.
Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung ging ich weit hinaus
Bis zu dem unbedecktem Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen.
 
In jedem Lufthauch war ein junges Werden ausgespannt.
Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten.
Schon dehnte sich bereitet Acker. In den Horizonten eingebrannt
War schon die Bläue hoher Morgenstunden, die ins Weite führen sollten.

Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen.
Überm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen,
In deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen.
In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen.

Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.



Ernst Stadler (1883-1914)

 

 

 

Sonntag, 10. März 2024

Kalendergedicht, Sonntag 10.März 2024

 

 

Der Morgenkuss nach einem Ball


Durch eine ganze Nacht sich nahe seyn,
So Hand in Hand, so Arm im Arme weilen,
So viel empfinden ohne mitzutheilen -
Ist eine wonnevolle Pein!

So immer Seelenblick im Seelenblick
Auch den geheimsten Wunsch des Herzens sehen,
So wenig sprechen, und sich doch verstehen -
Ist hohes martervolles Glück!

Zum Lohn für die im Zwang verschwundne Zeit
Dann bey dem Morgenstrahl, warm, mit Entzücken
Sich Mund an Mund, und Herz an Herz sich drücken -
O dies ist – Engelseligkeit!



Gabriele von Baumberg (1768-1839)

 

 

 

Samstag, 9. März 2024

Kalendergedicht, Samstag 9.März 2024

 

 

Vorfrühling


Nur ein heller Vogellaut!
Und schon muß ich sehnend gehen
Über Wiesen hin im Wehen
Heller Hügel, duftumblaut.

Und schon muß im lichten Grün
Tausendmal ich still mich bücken,
Tausend Kelche still zu pflücken,
Die dir hell entgegenblühn.


Wilhelm Weigand (1862-1949)

 

 

 

Freitag, 8. März 2024

Kalendergedicht, Freitag 8.März 2024

 

 

Wie einer abends löscht sein Licht,
Darauf kommt vieles an,
Ob freudig nach getaner Pflicht,
Ob in der Sorge Bann,
Ob müd`gehetzt in Saus und Braus,
Ob mit geweihtem Sinn -
Wie einer löscht sein Lichtlein aus,
So steht es auch um ihn.

Clotilde von Schwartzkoppen (1830-1873)

 

 

 

Donnerstag, 7. März 2024

Kalendergedicht, Donnerstag 7.März 2024

 

 

Eppich


Eppich, mein alter Hausgesell

Du bist von jungen Blättern hell

Dein Wintergrün, so still und streng

Verträgt sichs mit dem Lenzgedräng?

 

- "Warum denn nicht? Wie meines hat

Dein Leben alt und junges Blatt

Eins streng und dunkel, eines licht

Von Lenz und Lust! Warum denn nicht?"



Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)

 

 

 

Mittwoch, 6. März 2024

Kalendergedicht, Mittwoch 6.März 2024

 

 

Steiget auf, Ihr alten Träume!
Öffne dich, du Herzenstor!
Liederwonne, Wehmutstränen
Strömen wunderbar hervor.

Durch die Tannen will ich schweifen,
Wo die muntre Quelle springt,
Wo die stolzen Hirsche wandeln,
Wo die liebe Drossel singt.

Auf die Berge will ich steigen,
Auf die schroffen Felsenhöhn,
Wo die grauen Schloßruinen
In dem Morgenlichte stehn.


Heinrich Heine (1797-1856)

 

 

 

Dienstag, 5. März 2024

Kalendergedicht, Dienstag 5.März 2024

 

 

Draußen im März

Wie die Winde wolkenher huschen und lachen!
Wie sich sprühende Scheine rings entfachen!
In Goldlicht tritt das Tal aus dem Dunkeln, -
Die Büsche hängen voll Knospen und funkeln.
 - Tiefwinter ists noch bei euch in den Gassen
Die Himmel droben von Schnee erblassen;
Hier aber werden die Hochwaldfichten
Zu einer Fülle von Frühlingsgesichten...


Alberta von Puttkamer (1849-1923)

 

 

 

Montag, 4. März 2024

Kalendergedicht, Montag 4.März 2024

 

 

Im Märzenschnee

Im Märzenschnee gebettet,
Erträumt das junge Grün
Die ersten Lichtgedanken
Von lenzesfrohem Blüh`n;

Und wie die Flocken fliegen
Und duften ringsumher:
Statt Märzenschnee - von Lilien
Ein schimmernd Blütenmeer.


P.Timotheus Kranich (1870-1947)
 

 

 

 

Kalendergedicht, Sonntag 3.März 2024

 

 

Hand in Hand

Laß Deine Hand in meinen Händen,
Dort ruht sie weich und mild und gut,
Und leise rinnt ein Gabenspenden
Von meiner Glut in Deine Glut,

Bis sie nicht von einander scheiden
Was jede noch ihr eigen nennt.
Und dann verzehrend in den beiden
Ein einziger Gedanke brennt. -


Stefan Zweig (1881-1942)

 

 

 

Samstag, 2. März 2024

Kalendergedicht, Samstag 2.März 2024

 

 

Morgenandacht


Früh laß mich deine Gnade hören,
Der du gewacht, eh ich gewacht!
Daß nichts den Anfang möge stören,
Den du mir heute zugedacht.
Wem du das beste Teil beschieden
Für seines Tages kurzen Lauf,
Den weckest du in sanftem Frieden
Mit deines Geistes Odem auf.


Albert Knapp (1798-1864)

 

 

 

Freitag, 1. März 2024

Kalendergedicht, Freitag 1.März 2024

 

 

Nordwind


Der Nordwind fegt den Himmel rein,
Und all die Berge, groß und klein,
Die nahen, grünen - die fernen, blauen -
Klar auf die selige Erde schauen.

Nordwind! Könntest du meinem Leben
Solche Himmelskräfte geben,
Daß es wundersam erstände,
Helle und Weite fände!


Bodo Wildberg (1862-1942)

 

 

 

Donnerstag, 29. Februar 2024

Kalendergedicht, Donnerstag 29.Februar 2024

 

 

An Creuzer


Seh' ich das Spätrot, o Freund, tiefer erröten im Westen,
Ernsthaft lächelnd, voll Wehmut lächelnd und traurig verglimmen,
O dann muß ich es fragen, warum es so trüb wird und dunkel;
Aber es schweiget und weint perlenden Tau auf mich nieder.
 

Karoline von Günderrode (1780-1806)

 

 

 

Mittwoch, 28. Februar 2024

Kalendergedicht, Mittwoch 28.Februar 2024

 

 

Rätsel aus Turandot



Es führt dich meilenweit von dannen

Und bleibt doch stets an seinem Ort,

Es hat nicht Flügel auszuspannen

Und trägt dich durch die Lüfte fort.

Es ist die allerschnellste Fähre,

Die jemals einen Wandrer trug,

Und durch das größte aller Meere

Trägt es dich mit Gedankenflug,

Ihm ist ein Augenblick genug!



Dies leichte Schiff, das mit Gedankenschnelle

Mich durch die Lüfte ruhig trägt,

Sich selbst nicht von dem Ort bewegt,

Das Sehrohr ists, das in die Ferne

Den Blick beflügelt bis ins Land der Sterne.




Friedrich Schiller (1759-1805)