Mittwoch, 31. März 2021

ANNETTE VON DROSTE HÜLSHOFF - JUNGE LIEBE

 

 


Über dem Brünnlein nicket der Zweig,
Waldvögel zwitschern und flöten,
Wild Anemon' und Schlehdorn bleich
Im Abendstrahle sich röten,
Und ein Mädchen mit blondem Haar
Beugt über der glitzernden Welle,
Schlankes Mädchen, kaum fünfzehn Jahr,
Mit dem Auge der scheuen Gazelle.
 
Ringelblumen blättert sie ab:
»Liebt er?« - »liebt er mich nimmer?«
Und wenn »liebt« das Orakel gab,
Um ihr Antlitz gleitet ein Schimmer:
»Liebt er nicht« - o Grimm und Graus!
Daß der Himmel den Blüten gnade!
Gras und Blumen, den ganzen Strauß,
Wirft sie zürnend in die Kaskade.
 
Gleitet dann in die Kräuter lind,
Ihr Auge wird ernst und sinnend;
Frommer Eltern heftiges Kind,
Nur Minne nehmend und minnend,
Kannte sie nie ein anderes Band
Als des Blutes, die schüchterne Hinde;
Und nun Einer, der nicht verwandt -
Ist das nicht eine schwere Sünde?
 
Mutlos seufzet sie niederwärts,
In argem Schämen und Grämen,
Will zuletzt ihr verstocktes Herz
Recht ernstlich in Frage nehmen.
Abenteuer sinnet sie aus:
Wenn das Haus nun stände in Flammen,
Und um Hülfe riefen heraus
Der Karl und die Mutter zusammen?
 
Plötzlich ein Perlenregen dicht
Stürzt ihr glänzend aus beiden Augen,
In die Kräuter gedrückt ihr Gesicht,
Wie das Blut der Erde zu saugen,
Ruft sie schluchzend: »Ja, ja, ja!«
Ihre kleinen Hände sich ringen,
»Retten, retten würd' ich Mama,
Und zum Karl in die Flamme springen!«


- Annette von Droste-Hülshoff  -

 

 

 


 

 

 

 

Kennst du...

 

 


Kennst du
das Märchen
vom Du

Du
bist es


- Rose Ausländer -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 




ENTFERNT VON DIR

 

 


ENTFERNT VON DIR

entfernt von dir
klangwelten weit
blühen verwunschene töne
in längst verwaisten gärten
wenn der wind dort harfe spielt
klingt es zurück
in deine welt
und du lauscht hinein
verwundert
die resonanz, die du spürst
lässt neues wachsen

- findevogel -
 

 

 

 

Ich muss dich immer ansehn....

 

 

Ich muss dich immer ansehn. In deinem Lächeln ruh ich wie in spielenden Booten.
Deine kleinen Geschichten sind aus Seide.

Alfred Lichtenstein (1889-1914)
 

 

 

TRÄUME

 

 

TRÄUME

Nichts weiter als träumen
als dich träumen
als deinen Schatten zu sehen
an der Wand
der Träume und dich lieben
zu lieben noch
auf die allertraurigste Art.
Aber nein
Viel weniger
viel weniger oder nichts
als irgendein Almosen
wär schon genug.

- Idea Vilarino - 

 

 

 

„Sonnenschein wirkt köstlich...

 

 
„Sonnenschein wirkt köstlich, Regen erfrischend,
Wind aufrüttelnd, Schnee erheiternd.
Wo bleibt da das schlechte Wetter?“

- John Ruskin -
 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 31.März 2021

 

 

STERNENTROST


Es gäb noch mehr der Zähren
In dieser trüben Welt,
Wenn nicht die Sterne wären
Dort an dem Himmelszelt;

Wenn sie nicht niederschauten
In jeder klaren Nacht
Und uns dabei vertrauten,
Daß Einer droben wacht.


Martin Greif (1839-1911)

 

 

 

Dienstag, 30. März 2021

JOACHIM RINGELNATZ - SO IST ES UNS ERGANGEN

 

 


So ist uns ergangen.
Vergiß es nicht in beßrer Zeit! –
Aber Vöglein singen und sangen,
Und dein Herz sei endlos weit.

Vergiß es nicht! Nur damit du lernst
Zu dem seltsamen Rätsel „Geschick“. –
Warum wird, je weiter du dich entfernst,
Desto größer der Blick?

Der Tod geht stolz spazieren.
Doch Sterben ist nur Zeitverlust. –
Dir hängt ein Herz in deiner Brust,
Das darfst du nie verlieren.


- Joachim Ringelnatz -

 

 

 


 

 

 

 

alles wartet

 

 


alles wartet

warten worauf
doch niemand weiß es
weiß
worauf wir warten

daß unter allem
verborgen
etwas wartet
schon immer wartet

etwas
ungesagtes
unsagbares

wesentliches


- Anke Maggauer-Kirsche -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 




Schlaflos

 
 

 

Schlaflos

Geboren in eine Welt der unmerklichen Entfremdung
und tausend Versuche ihr zu entfliehen:
Hundert Menschen, die einem nahestehen
Zehn, die man symphatisch findet
Einen, den man zu lieben glaubt.
Und niemals wirklich die Gewißheit
einer geglückten Flucht.

Für Augenblicke
Begreifen, Erzittern und Vergehen
kurz vor dem Einschlafen.

Dann nur noch gleichmäßiger Atem.

© Martin Mooz 

 

 

 

ich möchte sein wie ein wunsch...

 

 


ich möchte sein wie ein wunsch.
auf der schwelle möchte ich stehen.
ein tag sein vor seinem anbruch.
noch nicht gewesen sein möchte ich.

- martin walser -
 

 

 

Sobald du...

 

 


Sobald du deine eigene Stille ertragen kannst, bist du frei.

- Mooji -

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 30.März 2021

 

 


VERSTRICKUNG


Ihr meine guten Gründe –
was hat euch so verkehrt
in lauter schwarze Sünde,
die mir den Weg verwehrt?

War doch der Lauf der Dinge,
der mich zum Handeln zwang!
Wer dreht mir da die Schlinge
aus dem Zusammenhang?

Gefesselt ans Vergangne –
bin ich nun der Gefangne
Verborgener Gewalt.

Wie mich die Fäden schnüren!
Ich kann mich kaum noch rühren.
Im wahren Sachverhalt.


Manfred Streubel (1932-1992)
 

 

 

 

Montag, 29. März 2021

JOACHIM RINGELNATZ - KIND, SPIELE!

 

 


Kind, spiele!
Spiele Kutscher und Pferd!
Trommle! - Baue dir viele
Häuser und Automobile!

Koche am Puppenherd!

Zieh deinen Püppchen die Höschen
Und Hemdchen aus! - Male dann still!
Spiele Theater: „Dornröschen"
Und „Kasperl mit Schutzmann und Krokodil!"

Ob du die Bleisoldaten

Stellst in die fürchterliche Schlacht,
Ob du mit Hacke und Spaten
Als Bergmann Gold suchst im Garten im Schacht,
Ob du auf eine Scheibe

Mit deinem Flitzbogen zielst,

Spiele! - Doch immer bleibe
Freundlich zu allem, womit du spielst.
Weil alles (auch tote Gegenstände)
Dein Herz mehr ansieht als deine Hände.

Und weil alle Menschen (auch du, mein Kind)
Spielzeug des lieben Gottes sind.


- Joachim Ringelnatz -

 

 

 


 





Wir müssen uns Zeit nehmen

 

 


Wir müssen uns Zeit nehmen

für Feinheiten
bei all den Grobheiten
um uns herum

Wir müssen uns Zeit nehmen


- Wolfgang Sternkopf -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

"Es gibt keinen königlichen Weg...

 

 


"Es gibt keinen königlichen Weg, der irgendwohin führt!
Eine Sache zu einer Zeit, alles der Reihe nach.
Das, was schnell wächst, verwelkt auch schnell.
Das, was langsam wächst, bleibt bestehen."

- Josiah Gilbert Holland -

 

 

 

Suchen wir unser Licht ...

 

 

 

Suchen wir unser Licht in unsern Gefühlen!
In ihnen liegt eine Wärme, die viel Klarheit in sich schließt.

- Joseph Joubert -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 29.März 2021

 

 


DER HELD


Ein still getrostes Herz
In Mangel, Not und Schmerze;
Zum Sterben und zum Leben
Auf ewig Gott ergeben;
Wo, wo solch ein Held
Zu finden auf der Welt?


Gerhard Tersteegen (1697-1769)

 

 

 

Sonntag, 28. März 2021

Kalendergedicht, Sonntag 28.März 2021

 

 


Ich liebe dich

Mir ist, als müßt ich immer sagen
Ich liebe dich,
Und mag nicht auszusprechen wagen
Ich liebe dich.
Die Maienlüfte säuseln wieder
Ich lausche hin
Und alle Blütenzweige klagen
Ich liebe dich

Der Sang der Vögel ist erwachet
Ich lausche hin
Und alle Nachtigallen schlagen
Ich liebe dich
So frag die Lüfte, frag die Blumen
Die Vögel all
Vielleicht, daß sie für mich dir sagen
Ich liebe dich

Ich wandle fern von dir und habe
Nur einen Trost
In diesen schönen Frühlingstage
Ich liebe dich.


Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)
 

 

 

 

Samstag, 27. März 2021

Kalendergedicht, Samstag 27.März 2021

 

 



DER KOHLENBARON


Durch die schmale schnurgerade Straßenzeile,
wo ein schales Blau an Häuserspitzen klebt
und das Harrende und aufgerissne Geile
flacher Neugier straffgespannte Bänder webt,

durch das Abgestumpfte vieler Mördermienen:
schiebt er sein Gesicht, das Würde kühl umprallt.
Und wie Donnern schwillt aus schnellbefahrnen Schienen,
wirbelt aus der überwältigten Gewalt

der längs Hingescharten ein Hosiannahsturm.
Und die Pose seines Blicks bejohlt die Krämpfe
und zerstört des Aufruhrs Babelturm.

Und die vielen Härten um sein hochgezognes Kinn
kräuseln sich und flattern blau wie Weihrauchdämpfe
über der Zerknirschten Büßersinn.


Paul Zech (1881-1946)

 

 

 

Freitag, 26. März 2021

NOVALIS - ES FÄRBTE SICH DIE WIESE GRÜN

 

 


Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßem Duft entgegen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Dass alles möchte lieblich scheinen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Vielleicht beginnt ein neues Reich
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Wie ich so stand und bei mir sann,
Ein mächtger Trieb in mir begann.
Ein freundlich Mädchen kam gegangen
Und nahm mir jeden Sinn gefangen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Sie ging vorbei, ich grüßte sie,
Sie dankte, das vergess ich nie.
Ich musste ihre Hand erfassen
Und Sie schien gern sie mir zu lassen.
Ich wusste nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Uns barg der Wald vor Sonnenschein
Das ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden
Die Menschen sollten Götter werden.
Nun wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.


- Novalis -

 

 

 


 




und immer wenn der Frühling sich ankündigt, ...

 

 


und immer wenn der Frühling sich ankündigt,
weine ich, denn wir werden bald vergangen sein
und keiner wird sich an uns erinnern.

- Tassos Livaditis -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

"Alles dauert lang,...

 

 

"Alles dauert lang, das Leben hat es nicht eilig.
Die großen Entscheidungen mögen in einem dramatischen Augenblick gefasst werden,
aber sie materialisieren und entwickeln sich nur allmählich;
es dauert Monate oder Jahre, bis sie die Bedeutung und die vertraute Gestalt der Realität annehmen."

- Klaus Mann -

 

 

 

Nur die Hälfte des Weges zurücklegen...

 

 


Nur die Hälfte des Weges zurücklegen und dann schwach werden,
das ist es, was du am meisten fürchten solltst.

- Fernöstliche Weisheit -




Kalendergedicht, Freitag 26.März 2021

 

 

DER LENZ IST DA



Das Lenzsymptom zeigt sich zuerst beim Hunde,

dann im Kalender und dann in der Luft,

und endlich hüllt auch Fräulein Adelgunde

sich in die frischgewaschene Frühlingskluft.


Ach ja, der Mensch! Was will er nur vom Lenze?

Ist er denn nicht das ganze Jahr in Brunst?

Doch seine Triebe kennen keine Grenze –

dies Uhrwerk hat der liebe Gott verhunzt.


Der Vorgang ist in jedem Jahr derselbe:

man schwelgt, wo man nur züchtig beten sollt,

und man zerdrückt dem Heiligtum das gelbe

geblümte Kleid – ja, hat das Gott gewollt?


Die ganze Fauna treibt es immer wieder:

Da ist ein Spitz und eine Pudelmaid –

die feine Dame senkt die Augenlider,

der Arbeitsmann hingegen scheint voll Neid.


Durch rauh Gebrüll läßt sich das Paar nicht stören,

ein Fußtritt trifft den armen Romeo –

mich deucht, hier sollten zwei sich nicht gehören . . .

Und das geht alle, alle Jahre so.


Komm, Mutter, reich mir meine Mandoline,

stell mir den Kaffee auf den Küchentritt. –

Schon dröhnt mein Baß: Sabine, bine, bine . . .

Was will man tun? Man macht es schließlich mit.




Kurt Tucholsky (1890-1935)
 

 

 

 

Donnerstag, 25. März 2021

Kalendergedicht, Donnerstag 25.März 2021

 

 
ADE!


Bereitet liegt der Wanderstab,
Das Bündel ist geschnürt,
und, was von Herzen lieb ich hab‘,
Wird alles mitgeführt.
Mein Weib, mein Kind, mein Mütterlein,
Ihr bleibt in meiner Näh,
So zieh ich froh ins Land hinein,
Zum grünen Strand der Spree.

Ich hab‘ in dir, du altes Haus,
Genossen Leid und Glück,
Du bot’st mir manchen Freudenstrauß,
Allgütiges Geschick.
Doch nun mit wanderlust’gem Fuß
Ich in die Fremde geh,
Ich fühle deinen Abschiedkuss,
Geliebtes Haus, ade!

Du knospender Kastanienbaum
Schaust mich so traurig an,
Ich seh‘ an deiner Wimper Saum
Die hellen Tropfen dran.
Du hielt’st getreulich bei uns Wacht
In Blütenduft und Schnee,
Hast Hoffnung mir ins Herz gelacht,
Geliebter Baum, ade!

Nicht werd‘ ich mehr, du lieber Wald,
In deinen Schatten ruhn,
In süßer Träume Allgewalt
Die schöne Zeit vertun;
Doch hör‘, mein treuer Kamerad,
Hör‘ zu, du braunes Reh:
Gesegnet sei ein jeder Pfad,
Geliebter Wald, ade!

Zu dir, du bestes Vaterherz,
Zu deinem Hügel fromm,
Den Blick gerichtet himmelwärts,
Ich Abschied nehmen komm‘.
Die Lippe zuckt, die Träne rinnt
Hernieder leis‘ im Weh,
Mir ist’s als segnest du dein Kind –
Geliebtes Grab, ade!

So fahrt denn wohl, noch eine Hand,
Ihr Freunde allzumal,
Fest schling sich unser Liebesband
Hin über Berg und Tal.
Fahrt wohl, fahrt wohl, die Ferne winkt
Gleich einer holden Fee,
Gott weiß, was uns ihr Lächeln bringt
Am grünen Strand der Spree.


Johanna Ambrosius (1854-1939)

 

 

 

Mittwoch, 24. März 2021

ERICH KÄSTNER - BESAGTER LENZ IST DA

 

 



Es ist schon so. Der Frühling kommt in Gang.
Die Bäume räkeln sich. Die Fenster staunen.
Die Luft ist weich, als wäre sie aus Daunen.
Und alles andere ist nicht von Belang.
 
Nun brauchen alle Hunde eine Braut.
Und Pony Hütchen sagte mir, sie fände:
Die Sonne habe kleine, warme Hände
Und krabble ihr mit diesen auf der Haut.
 
Die Hausmannsleute stehen stolz vorm Haus.
Man sitzt schon wieder auf Caféterrassen
Und friert nicht mehr und kann sich sehen lassen.
Wer kleine Kinder hat, der fährt sie aus.
 
Sehr viele Fräuleins haben schwache Knie.
Und in den Adern rollt´s wie süße Sahne.
Am Himmel tanzen blanke Aeroplane.
Man ist vergnügt dabei. Und weiß nicht wie.
 
Man sollte wieder mal spazierengehn.
Das Blau und Grün und Rot war ganz verblichen.
Der Lenz ist da! Die Welt wird frisch gestrichen!
Die Menschen lächeln, bis sie sich verstehn.
 
Die Seelen laufen Stelzen durch die Stadt.
Auf dem Balkon stehn Männer ohne Westen
Und säen Kresse in die Blumenkästen.
Wohl dem, der solche Blumenkästen hat!
 
Die Gärten sind nur noch zum Scheine kahl.
Die Sonne heizt und nimmt am Winter Rache.
Es ist zwar jedes Jahr dieselbe Sache,
doch es ist immer wie zum ersten Mal.



- Erich Kästner -

 

 

 


 





und Du warst die wende ...

 

 


und Du warst die wende
ich war das heute
und Du das anbrechende bessere morgen
ich war die frage
und Du alle antworten
ich bin der moment
der durch Dein ewig nie vergeht

- unser-morgen-stirbt-nie -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Weißt du, daß Pfirsichblüten innen traurig sind?...

 

 



Weißt du, daß Pfirsichblüten
innen traurig sind?
Sie haben nämlich in der Nacht
geweint,
weil sie so Sehnsucht hatten
nach dem Wind
und nach der Sonne,
die doch nachts nicht scheint.
Weißt du,
daß so auch deine Augen sind?

- Heinz Kahlau -
 

 

 

 

Lass mich langsamer gehen,...

 

 


Lass mich langsamer gehen,
um eine Blume zu sehen,
ein paar Worte mit einem Freund zu wechseln,
einen Hund zu streicheln,
ein paar Zeilen in einem Buch zu lesen.

Lass mich langsamer gehen, Gott,
und gib mir den Wunsch,
meine Wurzeln tief in den ewigen Grund zu senken,
damit ich emporwachse
zu meiner wahren Bestimmung.

(Gebet aus Afrika, zweiter Teil)

 

 

 

„Ich mag immer ...

 

 


„Ich mag immer den Mann mehr lieben,
der schreibt, wie es Mode werden kann,
als den, der so schreibt, wie es Mode ist.“

- Georg Christoph Lichtenberg -

 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 24.März 2021

 

 


SEHNSUCHT


Wie glänzend die Höhen sich dehnen
Weit in die blaue Ferne.
Zu ihnen fliegt mein Sehnen
Hin zu dem Morgensterne.

Wohl hinter ihnen sich breitet
Der lachende Weg zum Glück
Das endlos da hinten sich weitet.
Ich finde ihn nicht zurück.


Georg Heym (1887-1912)

 

 

 

Dienstag, 23. März 2021

Weil es seit drei Tagen regnet...

 

 

Weil es seit drei Tagen regnet
nahezu lautlos landregnet
greife ich nach meinen drei Farbstiften
blau gelb grün
und bringe einen Himmel
darin eine Sonne
und darunter eine Löwenzahnwiese
aufs Papier -
der rote Fleck auf der Wiese,
vergossener Wein.

- Rainer Brambach -
 

 

 

ZUCKMAYER - SINNGEDICHT VON DER WORTE NICHTIGKEIT

 

 


Rede nie, wenn dich die Kinder fragen,
Von den Dingen, die du heimlich weißt,
Wähne nie, du könntest ihnen sagen,
Wie der Name deines Gottes heißt,
Denk, die Nebel, die den Berg umtarnen,
weichen nur dem Blick der sie zerreißt -
Doch vergiß nicht, vor der Liebe sie zu warnen,
Welche wie ein Geier uns umkreist.

Glaube nicht, du könntest Wege weisen,
Wo der Triebsand rasch die Spur verweht,
Hoffe nicht, du könntest Glück verheißen,
Wenn der schmale Mond im Osten steht,
Schweig von Algen die den See vergarnen,
Schweig vom Segen der die Früchte mehrt -
Nur vergiß nicht, vor der Liebe sie zu warnen,
Welche uns wie Äther ganz verzehrt.

Ja bedenk, wenn dich die Kinder fragen,
Wieviel Worte du vom Leben weißt,
Prüfe wohl, ob du kannst eines sagen,
Daß dir nie der Jahre Seil zerschleißt,
Schweig! Und wolle nicht der Brandung wehren,
Welche Stück um Stück vom Lande reißt,
Doch vergiß nicht, jene Liebe sie zu lehren,
Die Vermächtnis und Erinnrung heißt.


- Carl Zuckmayer -

 

 

 


 

 

 

 

 

MELODIE

 

 


MELODIE

Man müsste es erreichen,
Daß man den Schmerz verwandelt
In eine reine Melodie,
Die nicht mehr von uns handelt.

- Eva Strittmatter -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 




"Jedes Gedicht, selbst das kürzeste,...

 

 


"Jedes Gedicht, selbst das kürzeste,
kann sich in ein erblühendes Poem verwandeln,
denn überall verbergen sich unermessliche
Vorräte an Herrlichkeit und Grausamkeit und warten
geduldig auf unseren Blick, der sie befreien kann ..."


- Adam Zagajewski -
 

 

 

 

Immer dem Fuchsbalg nach

 

 


Immer dem Fuchsbalg nach

Das vollkommene Gedicht
wird nie einer schreiben.

Es ist 11 Uhr vormittags
ich setze aus der Einfahrt
raus, ein Stück den Berg
rauf, winke meiner Frau
fahr die Straße runter und
in die Welt.

Das vollkommene Gedicht
wird nie einer schreiben.
Nicht hier, nicht
sonstwo, nicht auf
ein Blatt Papier
auf die Straße
an die Mauer
in Paris
in Peru
im Männerklo
im Wartesaal
auf eine Plakatwand
auf einen Stecknadel-
kopf. Nie wird jemand
das vollkommene Gedicht
schreiben.

Dafür
wollen wir
den Göttern
dankbar
sein.


- Charles Bukowski -
 

 

 

 

"Wir schätzen die Kunst,...

 

 

"Wir schätzen die Kunst,
weil wir wissen möchten, was unser Leben ist.
Wir leben, aber wir wissen nicht immer, was das bedeutet.
Also reisen wir, oder wir schlagen zu Hause ein Buch auf."

- Adam Zagajewski -

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 23.März 2021

 

 
AN EINE QUELLE



Du kleine grünumwachsne Quelle,

An der ich Daphne jüngst gesehn!

Dein Wasser war so still! so helle!

Und Daphnes Bild darin, so schön!

 

Oh, wenn sie sich nochmal am Ufer sehen läßt,

So halte du ihr schönes Bild doch fest;

Ich schleiche heimlich denn mit nassen Augen hin,

Dem Bilde meine Not zu klagen;

 

Denn, wenn ich bei ihr selber bin,

Denn, ach! denn kann ich ihr nichts sagen.




Matthias Claudius (1740-1815)

 

 

 

Montag, 22. März 2021

RAINER MARIA RILKE - DER SCHUTZENGEL

 

 

Du bist der Vogel, dessen Flügel kamen,
wenn ich erwachte in der Nacht und rief.
Nur mit den Armen rief ich, denn dein Namen
ist wie ein Abgrund, tausend Nächte tief.
Du bist der Schatten, drin ich still entschlief,
und jeden Traum ersinnt in mir dein Samen, -
du bist das Bild, ich aber bin der Rahmen,
der dich ergänzt in glänzendem Relief.

Wie nenn ich dich? Sieh, meine Lippen lahmen.
Du bist der Anfang, der sich groß ergießt,
ich bin das langsame und bange Amen,
das deine Schönheit scheu beschließt.

Du hast mich oft aus dunklem Ruhn gerissen,
wenn mir das Schlafen wie ein Grab erschien
und wie Verlorengehen und Entfliehn, -
da hobst du mich aus Herzensfinsternissen
und wolltest mich auf allen Türmen hissen
wie Scharlachfahnen und wie Draperien.

Du: der von Wundern redet wie vom Wissen
und von den Menschen wie von Melodien
und von den Rosen: von Ereignissen,
die flammend sich in deinem Blick vollziehn, -
du Seliger, wann nennst du einmal Ihn,
aus dessen siebentem und letztem Tage
noch immer Glanz auf deinem Flügelschlage
verloren liegt...
Befiehlst du, dass ich frage?


- Rainer Maria Rilke -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Einst fragtest du:...

 

 

Einst fragtest du: An jenem Nebelmorgen,
Wenn wir im Jenseits leise uns begegnen,
Wie soll ich dich erkennen unter allen Schatten?

Ich sagte: - Erinn're dich, ich werde die sein,
Die müden Schrittes langsam, ohne Eile
An dir vorbeigeh'n wird, das Gesicht verdeckt.


- Veronika Strélerte -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

als mir die sprache abhanden kam...

 

 


als mir die sprache abhanden kam
vielleicht trank ich gerade kaffee
oder schlug eine zeitung auf.
vielleicht zog ich die vorhänge zu,
oder sah auf die straße, als sie
mich verließ. ich dachte noch,
was für ein röcheln
aus der tiefe der wand,
was für ein klirren in diesem raum.
kein fensterglas sprang,
kein sessel fiel um in der küche.
an den straßenschildern erloschen
namen zu buchstabenasche.
über den häusern fuhr der
worttanker davon, massig, lautlos.
meine zunge zuckte wie ein
gestrandeter wal im trockenen mund.

ich floh aus der stadt,
zog mich hinter die grenze zurück.
kein brief kam an und antworten
blieben aus. wo ich
war, klafft eine lücke.
wo ich bin, treibt
mein schatten ins kraut.

(Maja Haderlap, aus Unveröffentlichtem Manuskript 2004)

 

 

 

all das, was du nicht sagst...

 

 


all das, was du nicht sagst
hör ich am liebsten
gedanke an gedanke
lausche ich dir

© 2014 — Freitag ist Rosa

 

 

 

„Schweigen ist ...

 

 


„Schweigen ist die Sprache der Ewigkeit. Lärm geht vorüber.“

- Gertrud le Fort -
 

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 22.März 2021

 

 


Den Dichter seht, der immerdar erzählt von Lerchensang,

Wie er nun bald ein Dutzend schon gebratner Lerchen schlang!

Bei Sonnenaufgang, als der Tag in Blau und Gold erglüht',

Da war es, daß sein Morgenlied vom Lob der Lerchen klang;

Und nun bei Sonnenuntergang mit seinem Gabelspieß

Er sehnend in die Liederbrust gebratner Lerchen drang!

Das heiß ich die Natur verstehn, allseitig, tief und kühn,

Wenn also auf und nieder sich sein Tag mit Lerchen schwang!




Gottfried Keller (1819-1890)

 

 

 

 

Sonntag, 21. März 2021

Kalendergedicht, Sonntag 21.März 2021

 

 

DER TRAUM


Du siehst mich manchmal an,
als hätt ich schuld.
Ich habe von deiner Huld
nicht einen Hauch vertan.

Ich lebe ja vom Traum
dass du mich liebst.
Traum wird zum grauen Raum,
wenn du dich gibst.

Bleib immer, wo du stehst.
Du stehst so fern.
Du nahst mir und vergehst:
Bleib ferne, Stern!

Ich will dich anders und:
inniger als du mich.
Verwehr mir deinen Mund:
Ich liebe dich!


Josef Weinheber (1892-1945)

 

 

 

Samstag, 20. März 2021

Kalendergedicht, Samstag 20.März 2021

 

 


LERCHENGESANG


Es ist die Zeit der Winterwende,
Ein goldner Hauch liegt auf der Au.
Der erste Lenztag geht zu Ende,
Die erste Lerche singt im Blau.

Die kahlen Wälder ruhn im Schweigen,
In tiefem Bann träumt die Natur,
Die fernen blauen Berge steigen
Sanft nieder in die ebne Flur.

Still geht der Bach dem Weg zur Seite,
Kein Lüftchen weht, kein Wellchen rauscht.
Es ist, als ob die ganze Weite
Dem Lied der kleinen Lerche lauscht.


Frida Schanz (1859-1944)
 

 

 

 

Freitag, 19. März 2021

HERMANN HESSE - GEBET

 

 


Lass mich verzweifeln, Gott, an mir,
doch nicht an Dir!
Lass mich des Irrens ganzen Jammer
schmecken,
Lass alles Leides Flammen an mir lecken,
Lass mich erleiden alle Schmach,
Hilf nicht mich erhalten,
Hilf nicht mich entfalten!
Doch wenn mir alles Ich zerbrach,
Dann zeige mir,
Dass Du es warst,
Dass du die Flammen und das Leid gebarst,
Denn gern will ich verderben,
Will gerne sterben,
Doch sterben kann ich nur in Dir!


- Hermann Hesse -

 

 

 


 





Lass mich an überraschender Biegung Dir begegnen...

 

 


Lass mich an überraschender Biegung
Dir begegnen im Dornbusch des Wortes,
Im stotternd zerrissenen Strauch,
Der mit bläulicher Flamme
Deines Geheimnisses brennt.

- Franz Werfel -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 




KLEINES MADRIGAL

 

 


KLEINES MADRIGAL


Vier Granatapfelbäume
hat dein Garten.

(Nimm mein junges
Herz.)

Vier Zypressen
wird dein Garten haben.

(Nimm mein altes
Herz.)

Sonne und Mond.
Und später…

weder Garten
noch Herz!


- Federico Garcia Lorca -
 

 

 

 

GARTEN IM MÄRZ

 

 


GARTEN IM MÄRZ


Mein Apfelbaum
hat schon Schatten und Vögel.

Was für einen Sprung macht mein Schlaf
vom Mond in den Wind!

Mein Apfelbaum
teilt Umarmungen aus an das Grün.

Vom März her, wie kann ich da
die weiße Stirn des Januar sehn!

Mein Apfelbaum…
(Wind unten).

Mein Apfelbaum…
(Himmel oben)



- Federico Garcia Lorca -

 

 

 

„Sprich nie Böses ...

 

 


„Sprich nie Böses von einem Menschen, wenn du es nicht gewiss weißt!
Und wenn du es gewiss weißt, so frage dich: Warum erzähle ich es.“

- Johann Kaspar Lavater -
 

 

 

 

Kalendergedicht, Freitag 19.März 2021

 

 


Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald.
Lasset uns singen, tanzen und springen!
Frühling, Frühling wird es schon bald.

Kuckuck, Kuckuck lässt nicht sein Schrei'n:
"Komm in die Felder, Wiesen und Wälder!
Frühling, Frühling, stelle dich ein!"

Kuckuck, Kuckuck, trefflicher Held!
Was du gesungen, ist dir gelungen:
Winter, Winter räumet das Feld!



August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 18.März 2021

 

 


VORFRÜHLING AM WALDRAND


In nackten Bäumen um mich her der Häher,
Der ewig kreischende, der Eichelspalter,
Und über Farnkraut gaukelt nah und näher
Und wieder weiter ein Citronenfalter,
Ein Hühnerhabicht schießt als Mäusespäher,
Pfeilschnell, knicklängs vorbei dem Pflugsterzhalter,
Der Himmel lacht, der große Knospensäer
Und auf den Feldern klingen Osterpsalter.


Detlev von Liliencron (1844-1909)

 

 

 

Mittwoch, 17. März 2021

DYLAN THOMAS - GEHT NICHT GELASSEN IN DAS SANFTE NICHTS

 

 


Geht nicht gelassen in das sanfte Nichts,
Brennt, Jahre, tobt doch, endet sich der Lauf;
Schäumt, schäumt vor Zorn, wenn hinstirbt Tag und Licht.

Der Weise selbst, der Dunklem Recht zuspricht,
Fuhr doch kein Blitz aus seinen Worten auf,
Geht nicht gelassen in das sanfte Nichts.

Der Gute, da die letzte Welle bricht,
Beschwört der kleinen Sünden Glanz herauf,
Schäumt, schäumt vor Zorn, wenn hinstirbt Tag und Licht.

Der Wilde, der die Sonne fing, vertrieb,
Und viel zu spät begriff, was er ihr tat,
Geht nicht gelassen in das sanfte Nichts.

Der Ernste, todnah, schon sein Blick verwischt,
sieht wie ein blindes Auge leuchtet auf,
Schäumt, schäumt vor Zorn, wenn hinstirbt Tag und Licht.

Mein Vater, alt und gram, erhöre mich,
Gib Fluch und Segen mir mit wilden Tränen.
Geht nicht gelassen in das sanfte Nichts.
Schäumt, schäumt vor Zorn, wenn hinstirbt Tag und Licht.

- Dylan Thomas -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

MANCHMAL

 

 
MANCHMAL

Manchmal
hilft nur eine Melodie,
ein Kontrapunkt
zum Ich,
das einen gerade aus-
macht,
um trotz alledem
ein "ja" zu zaubern.

- Otto Lenk -

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 



Mein grünes Herz

 

 

Mein grünes Herz

Mein grünes Herz tanzt
an der Innenseite der
Regenbogen. Die Möven
meines Verstandes lassen
sich nieder. Manchmal
bist du perlgrau und
versunken. Manchmal
bist du so weit: da
muss ich dein Lächeln aus
wiegenden Zweigen lösen.
Oh triefende Nacht.

- Friederike Mayröcker -

 

 

 

irgendwann wird wieder frühling sein...

 

 

irgendwann wird wieder frühling sein
die tür wird offenstehen und wolken von neuen ideen
werden durch die straßen wandern
du wirst hier sitzen mit deinem
frühlingskörper und eine erste zigarette rauchen
du wirst in einer zeitung blättern auf der suche
nach einer blutigen oder absurden geschichte
zufälle werden leuchten wie die gesichter von engeln
nach einer langen und schwierigen krankheit und dein bewußtsein
wird schwelgen in den gerüchen einer fernen fremden welt
du wirst dich bemühen deine gedanken zu zügeln
die mit sechs bis acht einhornbeinen durch die lüfte galoppieren
etwas leichtes wird sich zeigen
eine jenseitige substanz aus eigensinn und magie
erinnerungen werden aufklingen
und von den dächern der zukunft
wird dein gesicht herabspringen
mitten hinein
in den glänzenden
augenblick


- Joachim Zünder -
 

 

 

 

Man kann die Welt nicht erkennen...

 

 


Man kann die Welt nicht erkennen, indem man alle ihre Einzelheiten lernt.

Ralph Waldo Emerson (1803-1882)

 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 17.März 2021

 

 


BEIM ABSCHIED


Du sprachst zu mir nach langem Sinnen,
Wie zitterte dein süßes Wort
Und deine Hand :" Nun geh' von hinnen,
Ich bin Dir gut- mehr nicht- geh fort !"

Doch wenn ich dann von Dir gegangen,
Dann zieht dein sehnend Bild mir nach,
Schlingt mir den Arm um Hals und Wangen
Und bittet: "Glaub nicht, was ich sprach".


Karl Stieler (1842-1885)

 

 

 

Dienstag, 16. März 2021

RAINER MARIA RILKE - DU BIST SO GROSS

 

 

Du bist so groß, dass ich schon nicht mehr bin,
wenn ich mich nur in deine Nähe stelle.
Du bist so dunkel; meine kleine Helle
an deinem Saum hat keinen Sinn.
Dein Wille geht wie eine Welle
und jeder Tag ertrinkt darin.

Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn
und steht vor dir wie aller Engel größter:
ein fremder, bleicher und noch unerlöster,
und hält dir seine Flügel hin.

Er will nicht mehr den uferlosen Flug,
an dem die Monde blass vorüberschwammen,
und von den Welten weiß er längst genug.
Mit seinen Flügeln will er wie mit Flammen
vor deinem schattigen Gesichte stehn
und will bei ihrem weißen Scheine sehn,
ob deine grauen Brauen ihn verdammen.

- Rainer Maria Rilke -
 

 

 

 


 

 

 

 

 

Letztlich lieben wir die Sehnsucht, ...

 

 


Letztlich lieben wir die Sehnsucht,
nicht das Ersehnte.

- Friedrich Nietzsche -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





Da ist es: neben mir!

 

 

 
Da ist es: neben mir!
Dunkel wie die Zukunft.
Hinter einem Vorhang aus vergilbtem Papier.

Gäbe ich kurz die Fassung auf,
ich fiele lautlos hinüber
und wäre zuhause.

Aber keiner lockert den Griff.
Das ist unser Leben.

Die Jahrzehnte indes,
sie entfernen mich nicht.
Lächelnd, ein träumendes Wellenspiel,
tragen sie mich dorthin zurück.

- Angela Krauss -
 

 

 

 

ich

 

 
ich

sagt diese stimme
mein erbstück
mein wortführer
mein lispelnder versucher
mein mönchischer bruder
ich teile deine zelle
die verrückten früchte
deiner hirnschale
ich bin deine hand
dein mund
ich bin da
wenn der kuß fort ist
(dein bißchen glück war immer sprachlos)
ich zimmre dir ein leben
beleg dich rückwärts mit daten
beschönige verschweige
das macht sinn
ich war dein himmelschreiender anfang
deine greisenhafte Verweigerung
dein trotziges ja hier bin ich
und ich bin
auf dem rückzug
langsam
unaufhaltsam


- Doris Runge -

 

 

 

Unser Leben...

 

 


Unser Leben ist ja nicht ein feiges Ruhen und Genießen,
es ist ein hartes Kämpfen und Arbeiten, und arbeiten dürfen.

Paul Ernst (1866-1933)

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 16.März 2021

 

 


SCHEIDEN UND MEIDEN


So soll ich nun dich meiden,
Du meines Lebens Lust!
Du küssest mich zum Scheiden,
Ich drücke dich an die Brust.

Ach, Liebchen! heißt das: meiden,
Wenn man sich herzt und küßt?
Ach, Liebchen! heißt das: scheiden,
Wenn man sich fest umschließt?


Ludwig Uhland (1787-1862)
 

 

 

 

Montag, 15. März 2021

CHARLES BUKOWSKI - DAS SCHNELLE LEBEN

 

 

 

 


 

 

 

 

 

An einem klaren Märzmorgen...

 



An einem klaren Märzmorgen nach dem Regen
kann es manchmal so aussehen als wäre Oktober

und davon wird man traurig
denn der Himmel ist so schmerzlich rein
und die Pappeln kahl
und plötzlich
weiß ich nichts
vom Saft, der ihre Knospen anschwellen lässt
denn in mir selbst schwillt diese Traurigkeit an
und mich begräbt diese Welle kühlen Lichts
Sehnsucht und Furcht
und noch etwas
wie ein leerer Strand im Herbst mit Sonne im Oktober

auch wenn gerade März ist

- Tõnu Õnnepalu -

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 




DEN FRAUEN - SOWEIT ES MICH BETRIFFT

 

 
 DEN FRAUEN - SOWEIT ES MICH BETRIFFT


Die Gefühle, die ich nicht habe, habe ich nicht.
 Von dem Gefühl, das ich nicht habe, werde ich nicht sagen,
dass ich es habe.
Die Gefühle, von denen du sagst, dass du sie hast, hast du
nicht.
Die Gefühle, von denen du gern hättest, dass wir beide sie
 haben, hat keiner von uns.
Die Gefühle, die die Menschen haben sollten, haben sie
niemals.
Wenn die Menschen sagen, dass sie Gefühle haben, kannst
du ziemlich sicher sein, dass sie sie nicht haben.
Wenn du also willst, dass einer von uns überhaupt etwas fühlt,
 tust du besser,
alle Gedanken an Gefühle vollständig
aufzugeben.


- D. H. Lawrence -

 

 

 

Der Himmel prahlt...

 

 

Der Himmel prahlt
in dieser Nacht
mit all den leuchtendweissen,
dunkelweissen, hellgelben,
kleinen und grossen Sternen.
Glaub ihm nichts.

Der volle Aschenbecher
und die leere Flasche
wüssten mehr zu erzählen
über meine lange Zeit,
als dieser alte Himmel
mit seinen faulen Tricks.

- Pedro Lenz -

 

 

 

HOPPERS NACHT

 

 

HOPPERS NACHT


Hoppers Menschen
sitzen in der Bar.
Es kommt mir kein Wort
über die Lippen.

Eine kleine weiße Schlange kommt
mir über die Lippen.
Sie verschwindet im Garten,
wer mich kennt, weiß Bescheid.

Auf hohen Stühlen
sitzen Hoppers Menschen,
und sie führen ein Gespräch,
ohne ein Wort zu sagen.
Sie reden und
eine kleine weiße Schlange
windet sich um sie herum.
Der Barmann weiß Bescheid.

Er spült die Gläser,
er betrachtet das Glas,
und er weiß,
im Glas ist ein Auge,
das nicht seines ist.
Der Barmann weiß Bescheid.

Er spielt mit einem Gedanken,
während du mit einem Wort spielst.
Dieses Wort ist sperrig und schwarz.
Niemand geht darauf ein.
Das Gleiche noch einmal, sagst du.


- Richard Wagner -

 

 

 

„Ich fürchte mich nicht...

 

 
„Ich fürchte mich nicht vor der Rückkehr des Faschisten in der Maske des Faschisten,
sondern vor dessen Rückkehr in der Maske des Demokraten.“  

- Theodor W. Adorno -

 

 

Kalendergedicht, Montag 15.März 2021

 

 

Sehnlichster Weißheit-Wunsch /
Zu vorgenommenem löblichen Lobewerk


                                     

ACh daß die Weißheit wär ein Pfeil / und mich durchdrüng' /

ein glantz und mich erhellt'; ein wasser / und mich tränkte /

ein abgrunds-tieff' / und sie mich ganz in sie versenkte /

ein Adler / der mit mir sich zu der Sonne schwüng:

   

ein helle Quell' / so in die Sinnen rinnend sprung!

Ach! daß den Kunst-Geist sie mir aller Weißen schenkte!

daß nur was würdigs ich zu Gottes Lob erdenkte

und seiner Wunder Preiß nach wunsch durch mich erkling!

   

Ich such' je nicht mein Lob / die selbst-Ehr sey verflucht!

GOtt! GOtt! GOtt! ist der Zweck / den ihm mein kiel erkohren.

Ich bin der Pinsel nur: sein Hand mahlt selbst die Frucht;

   

Ihr zimt die Ehr / wird was aus meinen Sinn gebohren.

Aus GOttes trieb kan ja kein Teuffels Laster fliessen.

mein einigs flugziel ist / zu Jesus Christus Füssen!


 

Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694)

 

 

 

Sonntag, 14. März 2021

Kalendergedicht, Sonntag 14.März 2021

 

 


“Ihr nennt mich Menschenfeind,
Weil ich Gesellschaft meide.
Ihr irret euch,
Ich liebe sie.
Doch um die Menschen nicht zu hassen
Muß ich den Umgang unterlassen.

Kann dich denn nie Langeweile plagen?
So hör’ ich öfters die Leute fragen,
Stets sieht man dich allein.
Um nicht von Langeweile geplagt zu sein,
Halt ich mich fern von euch, allein.”


Caspar David Friedrich (1774-1840)

 

 

 

Samstag, 13. März 2021

Kalendergedicht, Samstag 13.März 2021

 

 


SONETT-SONETT


"Man nehme schöne Wörter, etwa Balustrade
verrühre sie mit Reimen, lasse das Gedicht,
nun in vier Strophen stehen, bis der Sinn aufbricht.
Dann kann es vorgetragen werden. Ach wie schade

dass es so wüste Namen gibt von schönen Dingen;
ich denk an 'Schnitzel', 'Kümmelstange' und die 'Schweiz';
gewaltig ist der Klang von 'Ohrwurm' andrerseits,
doch hat der wenig Reiz. Soll das Sonnett gelingen,

dann braucht es beides, Form und Inhalt, Sinn und Klang,
wie Rom, Granada, Ulm, Luang Prabang
und andre Städtenamen - doch nicht 'Drispenstedt'.

Auch klingen ganz vorzüglich schön Obst und Gemüse,
die Aprikose, Kraut und Rüben voller Süsse;
jetzt noch ein tiefrer Sinn, dann wird es ein Sonnett."



F. W. Bernstein (1938-2018)
 

 

 

 

Freitag, 12. März 2021

MASCHA KALÉKO - DAS LETZTE MAL

 

 

Den Abend werde ich wohl nie vergessen,
Denn mein Gedächtnis ist oft sehr brutal.
Du riefst: „Auf Wiedersehn". Ich nickte stumm. - Indessen
Ich wusste: dieses war das letzte Mal.

Als ich hinaustrat, hingen ein paar Sterne
Wie tot am Himmel. Glanzlos kalt wie Blech.
Und eine unscheinbare Gaslaterne
Stach in die Augen unbekümmert frech.

Ich fühlte deinen Blick durch Fensterscheiben.
Er ging noch manche Straße mit mir mit.
- Jetzt gab es keine Möglichkeit zu bleiben.
Die Zahl ging auf. Wir waren beide quitt.

Da lebt man nun zu zweien so daneben . . .
Was bleibt zurück? - Ein aufgewärmter Traum
Und außerdem ein unbewohnter Raum
In unserm sogenannten Innenleben.

Das ist ein neuer Abschnitt nach drei Jahren,
- Hab ich erst kühl und sachlich überlegt.
Dann bin ich mit der Zwölf nach Haus gefahren
Und hab mich schweigend in mein Bett gelegt . . .

Ich weiß, mir ging am 4. Januar
Ein ziemlich guterhaltnes Herz verloren.
- Und dennoch: Würd ich noch einmal geboren,
Es käme alles wieder, wie es war . . .


- Mascha Kaléko -

 

 

 


 





... Du mußt dir deinen Pfad Durch wildes Dickicht hauen...

 

 
...
Du mußt dir deinen Pfad
Durch wildes Dickicht hauen
Und ohne Hilf' und Gnad'
Ganz deiner Kraft vertrauen.

Karl Ernst Knodt (1856-1917)

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 





"Wo beginnen?...

 


 "Wo beginnen?
Alles kracht in den Fugen und schwankt.
Die Luft erzittert vor Vergleichen.
Kein Wort ist besser als das andre,
die Erde dröhnt vor Metaphern ..."

- Ossip Mandelstam -
 

 

 

wunder

 

 
wunder

wenn das trugbild zerfällt
verliert sich die zeit &
das wunder beginnt

ein unbändiger sturm
öffnet die türen

die vordere
hintere
innere

zuhause
ist nicht mehr
wo zuhause war

der flur
aus reinem wind

die wände
aus hellem blau

aller trubel
hinter dir

die letzte tür –
wie zufällig

steht sie
offen
 

- Rea Revekka Poulharidou -

 

 

 

Lasst, die Ihr eingegangen seid in diese Welt,...

 


Lasst, die Ihr eingegangen seid in diese Welt, ja keine Hoffnung fahren. Schwierig?
Davon weiß ich ein Lied zu singen.
Aber es lohnt sich mit jedem gelebten Tag, wenn es gelingt.

- Lenka Reinerová -

 

 

Es gibt keine Antwort....

 


Es gibt keine Antwort. Es wird keine Antwort geben. 

Es hat niemals eine Antwort gegeben. Das ist die Antwort.


Gertrude Stein (1874-1946) 




Kalendergedicht, Freitag 12.März 2021

 

 
VORFRÜHLING


Stürme brausten über Nacht,

und die kahlen Wipfel troffen.

Frühe war mein Herz erwacht,

schüchtern zwischen Furcht und Hoffen.

 

Horch, ein trautgeschwätz′ger Ton

dringt zu mir vom Wald hernieder.

Nisten in den Zweigen schon

die geliebten Amseln wieder?

 

Dort am Weg der weiße Streif -

Zweifelnd frag′ ich mein Gemüte:

Ist′s ein später Winterreif

oder erste Schlehenblüte?



Paul Heyse (1830-1914)

 

 

 

Donnerstag, 11. März 2021

Kalendergedicht, Donnerstag 11.März 2021

 

 


Vergiß mein nicht



Vergiß mein nicht, wenn lokre kühle Erde

Dieß Herz einst dekt das zärtlich für dich schlug

Denk das es dort vollkomner lieben werde,

Als da voll Schwachheit ichs vielleicht voll Fehler trug.

 

Dann soll mein freier Geist oft segnend dich umschweben

Und deinen Geiste Trost und süße Ahndung geben

Denk das ichs sey, wenns sanft in deiner Seele spricht;

Vergiß mein nicht! Vergis mein nicht!



Novalis (1772-1801)
 

 

 

 

Mittwoch, 10. März 2021

SELMA MEERBAUM EISINGER - ROTE NELKEN

 

 

 

 


 

 

 

 

 

Dir schenke ich mein Herz...

 

 


Dir schenke ich mein Herz, nur für den Fall,
daß du mal eines brauchen solltest,
und dazu noch alles, was ich sonst noch habe (doch
das ist fast nichts), gesetzt, du wolltest
noch mehr, so nimm's! Nimm jedes meiner Worte mit,
das ich dir zugeflüstert, zugedacht
am Morgen, Mittag, Abend, in der Nacht,
nimm jede kleinste Silbe, meine ganze Liebe,
so daß - verstummt bis an das Ende meiner Tage -
ich nur ein leeres Blatt noch wär' im wirren Weltgetriebe,
wenn ich nicht wüßte, nicht ganz sicher wüßte,
daß ich dich noch mal wiedersehen müßte
in dieser oder jener Welt -

- Matthias Politycki -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Nacht

 

 

Nacht

In der Nacht
tanzen die Schwüre
mit grauen Katzen

Was übrigbleibt
fressen die Fische
im Morgengrauen

Die Nacht ist eingezeichnet
in alle anderen Nächte
die Nacht ist ausgezeichnet
vor allen anderen Nächten
Liebe ist anders

Die Nacht ist so hoch
wie sie lang ist
die Nacht ist so kurz
wie sie tief ist
Leben ist anders

- Erich Fried -

 

 

 

Abend im März

 



Abend im März


Ich trete in die Türe ein,
der Mond war vor mir dort.
Ach Mond, du sollst nicht bei mir sein!
Er schweigt und geht nicht fort.

Er wohnt in meiner Stube drin
seit gestern, als ich kam.
Ich seh ihn, weil ich traurig bin,
ich kenn ihn nur im Gram.

Ich zünde keine Lampe an,
ich setz mich in sein Licht.
Durchs Fenster blick ich dann und wann,
der Mond erkennt mich nicht.

So eß ich einen goldnen Fisch,
gieß Wasser mir ins Glas,
wie eine Wiese ist der Tisch,
im Mondlicht wächst das Gras.

Jetzt wird er bald verfinstert sein,
wohl gegen Ende März.
Und sinnlos fällt das Wort mir ein:
„Er ist der Nacht ihr Herz.“

Er ist so blind, er ist so taub,
ihn kümmern Tränen nicht.
Er schwankt im Wind, er hängt im Laub,
ach mit demselben Licht.


- Günter Eich -
 

 

 

 

Je älter man wird,...

 

 

 
Je älter man wird, desto mehr schätzt man die Kunst des konstruktiven Schweigens.

- Ezra Pound -

 

 

 

Kalendergedicht, Mittwoch 10.März 2021

 

 
Wenn ich hoch den Becher schwenke, süßberauscht,
Fühl ich erst, wie tief ich denke süßberauscht;
Mir wie Perlen runden lieblich Verse sich,
Die ich schnüreweis verschenke, süßberauscht;
Voll des Weines knüpf ich kühn des Zornes Dolch
An der Liebe Wehrgehenke, süßberauscht;
Hoffen darf ich, überhoben meiner selbst,
Daß ein fremder Schritt mich lenke süßberauscht;
Staunend hören mich die Freunde, weil ich tief
In Mysterien mich senke süßberauscht;
Weil mein Ich sich ganz entfaltet, wenn ich frei
Keiner Vorsicht mehr gedenke, süßberauscht;
Wehe, wer sich hinzugeben nie vermocht,
Wer dich nie geküßt, o Schenke! süßberauscht.



August von Platen (1796-1835)

 

 

 

Dienstag, 9. März 2021

"Das Blasse mein ich,...

 


 "Das Blasse mein ich, das im Licht verschwindet,
in Wachschlaf fällt, und eingehüllt, vergessen
am Grund liegt, wartet, weil ein Fisch sich windet,
weil Krebse wachsen und sich stumm zerfressen,

weil langsam eine warme Sandform bricht,
das Wartende aus Tod und Leben, weich
und sprachlos, wie es von dem Anfang spricht
und daß ein Atemzug für immer reicht."


- Christian Lehnert -

 

 

 

Vor lauter Lauschen und Staunen Rainer Maria Rilke

 


(...)
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.

- Rainer Maria Rilke -
 

 

 


 

 

 

 

GEFUNDEN

 

 

GEFUNDEN

Ich ging im Walde
So vor mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümlein stehn,
Wie Sterne blinkend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt' es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Mit allen Wurzeln
Hob ich es aus,
Und trugs zum Garten
Am hübschen Haus.

Ich pflanzt es wieder
Am kühlen Ort;
Nun zweigt und blüht es
Mir immer fort.


- Johann Wolfgang von Goethe -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 



Ich lasse einen Bogen Papier zu Boden taumeln....

 

 

 
Ich lasse einen Bogen Papier zu Boden taumeln.
Ich lasse die Löwenzahnstauden ungestört wachsen
und Samen bilden,
ich lasse die Morgenluft in mein Zimmer dringen.
Nichts ist zu tun.
Nichts ist zu verstehen.

- Christian Lehnert -
 

 

 

Sich von seinen Problemen zu lösen...

 


Sich von seinen Problemen zu lösen, das wäre es. Warum ein Problem lösen?
Man löse es auf. Lege es in eine Salzlösung von Nichtbeachtung, Verachtung und Gleichgültigkeit.

(Henry Miller: “Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch”)

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 9.März 2021

 

 

DIE BEREDSAMKEIT


Freunde, Wasser machet stumm:
Lernet dieses an den Fischen.
Doch beim Weine kehrt sichs um:
Dieses lernt an unsern Tischen.

Was für Redner sind wir nicht,
Wenn der Rheinwein aus uns spricht!
Wir ermahnen, streiten, lehren;
Keiner will den andern hören.


Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)


 

 

Montag, 8. März 2021

KINDHEIT

 

 


KINDHEIT


Wie sah das Haus im Mondlicht aus?
Es fällt mir nur die Sonne ein.
Oh Kindernacht, da schlief ich wohl
schon vor dem Dämmern ein.

Der Wind verweht, die Stunde geht,
mir ists darum nicht leid.
Die Stunde selbst, die ich vergaß,
wird nicht Vergangenheit.

Der Pfau, das Pferd, der Apfelbaum,
so sprech ich Worte hin
und denk daran, - oh seltsam Glück -
daß ich derselbe bin.



- Günter Eich -

 

 

 

Weiter, weiter – unermüdlich

 

 


Weiter, weiter – unermüdlich

Weiter, weiter – unermüdlich!
Westlich, östlich; nördlich, südlich.
Suche, Seele, suche!
Suche nur, kannst doch nichts finden!
Sonnen strahlen, Sonnen schwinden.
Fluche, Seele, fluche!

Nördlich, südlich; westlich, östlich.
Such das Glück. Das Glück ist köstlich.
Suche, Seele, suche!
Suche, daß die Sterne stieben!
Wird dich doch die Welt nicht lieben.
Fluche, Seele, fluche!

Südlich, nördlich; östlich, westlich,
Himmel, Erde, schmuck und festlich.
Suche, Seele, suche!
Schönheit, Freuden, Räusche, Frieden
sind dir, Seele, nicht beschieden.
Fluche, Seele, fluche!

Mit dem Fahrschein bahnbehördlich
westlich, östlich; südlich, nördlich.
Suche, Seele, suche!
Siehst dein Glück vorübertreiben
hinter Schnellzugsfensterscheiben.
Fluche, Seele, fluche!


Erich Mühsam (1878-1934) 









Ich war gestern...

 

 


Ich war gestern in der größten Harmonie über alle mir bekannten Dinge
und in der vollständigsten Seelenruhe und fühlte,
dass das Glück ist.

Rahel Varnhagen (1771-1833)

 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas






MEIN GLÜCK

 

 


MEIN GLÜCK


Seit ich des Suchens müde ward,
Erlernte ich das Finden.
Seit mir ein Wind hielt Widerpart,
Segl’ ich mit allen Winden.


- Friedrich Nietzsche -

 

 

 

FRÜHLING

 

 

FRÜHLING

Sonne. Und noch ein bisschen aufgetauter Schnee
und Wasser, das von allen Dächern tropft,
und dann ein bloßer Absatz, welcher klopft,
und Straßen, die in nasser Glattheit glänzen,
und Gräser, welche hinter hohen Fenzen
dastehen, wie ein halbverscheuchtes Reh…

Himmel. Und milder, warmer Regen, welcher fällt
und dann ein Hund, der sinn- und grundlos bellt,
ein Mantel, welcher offen weht,
ein dünnes Kleid, das wie ein Lachen steht,
in einer Kinderhand ein bisschen nasser Schnee
und in den Augen Warten auf den ersten Klee –

Frühling. Die Bäume sind erst kahl
und jeder Strauch ist wie ein weicher Schall
als erste Nachricht von dem neuen Glück.
Und morgen kehren Schwalben auch zurück.

- Selma Meerbaum-Eisinger -

 

 

 

Der Frühling...

 

 


Der Frühling ist eine echte Auferstehung, ein Stück Unsterblichkeit.

- Henry David Thoreau -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 8.März 2021

 

 


DAS LAUNISCHE GEHIRN


Mein Gehirn ist widerspenstig; manchmal fleißig, brav
und zahm,
Zu was nütze, und was wert.
Aber schon am nächsten Tage obstinat und lendenlahm,
Wie ein altes Droschkenpferd.
Güte hilft nichts; Grobheit hilft nichts. So, als sei es nicht
gesund,
Hockt es da und rührt sich nicht.
Eines Tages aber, – plötzlich, – ohne den geringsten
Grund,
Tut es wieder seine Pflicht.
Ha, wo steckt der freie Wille? – Ich erfahre nichts
als Zwang;
Denn der Feind in meiner Stirn
Tut nur, was er mag. Und grollend füge ich mich
lebenslang
Meinem launischen Gehirn


Lessie Sachs (1896-1942)

 

 

 

Sonntag, 7. März 2021

FRIEDRICH RÜCKERT - ABENDLIED

 

 


Ich stand auf Berges Halde,
als heim die Sonne ging,
und sah, wie überm Walde
des Abends Goldnetz hing.

Des Himmels Wolken tauten
der Erde Frieden zu;
bei Abendglockenlauten
ging die Natur zur Ruh.

Ich sprach: „O Herz, empfinde
der Schöpfung Stille nun,
und schick mit jedem Kinde
der Flur dich auch zu ruhn!“

Die Blumen alle schließen
die Augen allgemach.
und alle Wellen fließen
besänftiget im Bach.

Nun hat der müde Sylphe
sich unters Blatt gesetzt,
und die Libell' im Schilfe
entschlummert taubenetzt.

Es ward dem goldnen Käfer
zur Wieg' ein Rosenblatt;
die Herde mit dem Schäfer
sucht ihre Lagerstatt.

Die Lerche sucht aus Lüften
ihr feuchtes Nest im Klee
und in des Waldes Schlüften
ihr Lager Hirsch und Reh.

Wer sein ein Hüttchen nennet,
ruht nun darin sich aus,
und wen die Fremde trennet,
den trägt ein Traum nach Haus.

Mich fasset ein Verlangen,
daß ich zu dieser Frist
hinauf nicht kann gelangen,
wo meine Heimat ist.


- Friedrich Rückert -