Sonntag, 23. Januar 2022

Kalendergedicht, Sonntag 23.Januar 2022

 

 

Ich legte meine Seele ...


Ich legte meine Seele in deine Hand,
damit sie eine Schale habe und einen sichern Rand,
der sie nicht überfließen läßt.
Denn dies scheint ihr ein Fest:
von allen Grenzen sich befreien
und sich dem Ungewissen weihen,
und hingehn, wo man sich verliert
und in den Winden ferne Dinge spürt,
in Winden, die nicht wehen ...
wo man sich Männern, die man nie gesehen,
um eines Lächelns willen schenkt,
wo man an keine Ziele denkt ...

Ich gab dir meine Seele in die Hand,
damit sie eine Wand
sei zwischen ihr und jenem Land.
Denn die dort hingehn,
kommen nie mehr ganz zurück,
sie sehn dich nur mehr an mit halbem Blick,
und ihr Gesicht ist blaß und gleicht dem Wehn
einer weißen Fahne, die man vergaß im Sand.

Ich gab dir meine Seele in die Hand,
daß du ihr sagst: du bist in mir
und aus mir hast du keine Tür.
Ich halte dich in einem sichern Rand.



Hertha Kräftner (1928-1951)