Mittwoch, 9. Juni 2021

Kalendergedicht, Mittwoch 9.Juni 2021

 

 


DIE GRAUE NACHT


Die graue Nacht ist mit silbernen Nadeln gerafft.
Kahler Stamm starrt hinan, riesiger Säulenschaft.

Der Kirschbäume Wipfel sind wie Schleier verweht,
Breit kauert der Kiefer buckliger Unhold am Beet.

Alles ist anders. Nirgends lugen mehr Häuser hervor,
Giebel stieren, steil, schwarz, Pyramiden, empor.

Im Finstern sind irgendwo kleine Vierecke hell -
Surrendes Grillenzirpen, reißendes Hundegebell.

Eine goldsprühende Otter zischt im Fernen der Zug.
Sacht auf Boden und Baum tröpfelt's aus bläulichem Krug.

Ich wandre im Garten, weiter und weiter, schon längst nicht mehr hier.
Und wenn es ganz dunkel geworden ist, bin ich bei dir.



Gertrud Kolmar (1894-1943)