Donnerstag, 31. Dezember 2020

Erich Fried: „Zwischengedanken“

 

 


Weil es
menschliche Beziehungen
gab
musste es
Menschen geben

Nun gibt es
zwischenmenschliche
Beziehungen
Die lassen
auf das Dasein von Zwischenmenschen schließen

Es muss aber auch
Zwischenunmenschen geben
die dafür sorgen
dass die zwischenmenschlichen Beziehungen
so unmenschlich sind


- Erich Fried -

 

 

 

 


 





Und mein Leben...

 

 


Und mein Leben sei ein Fest…ღ

- Paula Modersohn-Becker -

 

 

Kommen Sie gut ins neue Jahr und haben Sie ein schönes und gesundes 2021! :)

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

SILVESTER





SILVESTER


Daß bald das neue Jahr beginnt,
Spür ich nicht im geringsten.
Ich merke nur: Die Zeit verrinnt
Genauso wie zu Pfingsten,

Genau wie jährlich tausendmal.
Doch Volk will Griff und Daten.
Ich höre Rührung, Suff, Skandal,
Ich speise Hasenbraten.

Mit Cumberland, und vis-à-vis
Sitzt von den Krankenschwestern
Die sinnlichste. Ich kenne sie
Gut, wenn auch erst seit gestern.

Champagner drängt, lügt und spricht wahr.
Prosit, barmherzige Schwester!
Auf! In mein Bett! Und prost Neujahr!
Rasch! Prosit! Prost Silvester!

Die Zeit verrinnt. Die Spinne spinnt
In heimlichen Geweben.
Wenn heute nacht ein Jahr beginnt,
Beginnt ein neues Leben.



Joachim Ringelnatz (1883-1934)




Es ist der Lauf der Welt...

 

 


Es ist der Lauf der Welt und es ist so elementar wie die Schwerkraft.
Wenn wir krampfhaft darauf bestehen, dass etwas so bleibt wie es ist,
dann wird es sich trotzdem verändern. Wenn wir versuchen daran
festzuhalten „wie es war“, dann wird uns das nur Leid und Enttäuschung
bringen, denn das Leben ist ein Fluss und alles ändert sich.

- Jack Kornfield -
 

 

 

 

Das Einfache...

 

 


Das Einfache überlebt.

Stefan Hölscher (*1965)

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 31.Dezember 2020

 

 

ABSCHIED AN DEN LESER


Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,
Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:
So sei mir wenigstens für das verbunden,
Was ich zurück behielt.


Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)

 

 

 

Mittwoch, 30. Dezember 2020

Kalendergedicht, Mittwoch 30.Dezember 2020

 

 


Der Mensch schaut lieber vorwärts als zurück,
Nach neuen Jahren und nach neuen Wonnen;
Euch giebt der Himmel jetzt das höchste Glück,
Drum hat für Euch das Neujahr schon begonnen.
Es nah`t Euch nicht umglänzt von Schnee und Eis,
Ein klarer Himmel lacht voll sanfter Milde;
Im Freien noch grünt zarter Myrte Reis,
Zeigt Eure Zukunft Euch im schönsten Bilde.

Doch nicht mit Segenswünschen nur allein
Will ich Euch heute den Kalender reichen;
Es wird Euch längst und wohl bekannt auch sein,
Ein schöner Tag erhält ein rothes Zeichen.
Und malt Ihr richtig den Kalender aus,
Wenn auch nicht immer kleine Sorgen schweigen,
So wird doch bald, ich sag`es im voraus,
Der Röthel mächtig hier im Preise steigen!


Caroline Leonhardt (1811-1899)

 

 

 

Dienstag, 29. Dezember 2020

Kalendergedicht, Dienstag 29.Dezember 2020

 

 



EPILOG

Wer bist du, dunkles Angesicht?
Du überströmest mich mit Tränen -
Die Muse, die dich einst geliebt,
Sie kommt mit dir zu sterben.
Nach Qual und Traum erreichen wir,
Auch wir die tiefe Bläue.

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898)

 

 

 

Montag, 28. Dezember 2020

Kalendergedicht, Montag 28.Dezember 2020

 

 



DER VOGEL AM FENSTER


An das Fenster klopft es: "Pick! pick!
Macht mir doch auf einen Augenblick.
Dick fällt der Schnee, der Wind geht kalt,
Habe kein Futter, erfriere bald.
Liebe Leute, o laßt mich ein.
Will auch immer recht artig sein."

Sie ließen ihn ein in seiner Not;
Er suchte sich manches Krümchen Brot,
Blieb fröhlich manche Woche da.
Doch als die Sonne durchs Fenster sah,
Da saß er immer so traurig dort;
Sie machten ihm auf: husch war er fort!


Wilhelm Hey (1789-1854)

 

 

 

Sonntag, 27. Dezember 2020

Kalendergedicht, Sonntag 27.Dezember 2020

 

 


UND ES IST DOCH LIEBE ...


Was die Menschen sagen,
weiß ich alles schon,
aber was sie tragen,
flüstert kaum ein Ton.

Und es ist doch Liebe,
was zusammenhält,
die sonst sinnlos bliebe,
diese wirre Welt.


Richard von Schaukal (1873-1942)

 

 

 

Samstag, 26. Dezember 2020

Kalendergedicht, Samstag 26.Dezember 2020

 

 

WEIHNACHTSLIED


Brich an du schönes Morgenlicht!
Das ist der alte Morgen nicht,
Der täglich wiederkehret.
Es ist ein Leuchten aus der Fern',
Es ist ein Schimmer, ist ein Stern,
Von dem ich längst gehöret.

Nun wird ein König aller Welt,
Von Ewigkeit zum Heil bestellt,
Ein zartes Kind geboren.
Der Teufel hat sein altes Recht
Am ganzen menschlichen Geschlecht
Verspielt schon und verloren.

Der Himmel ist jetzt nimmer weit,
Es naht die sel'ge Gotteszeit,
Der Freiheit und der Liebe.
Wohlauf, du frohe Christenheit!
Dass Jeder sich nach langem Streit
In Friedenswerken übe.

Ein ewig festes Liebesband
Hält jedes Haus und jedes Land
Und alle Welt umfangen,
Wir alle sind ein heil'ger Stamm,
Der Löwe spielet mit dem Lamm,
Das Kind am Nest der Schlangen.

Wer ist noch, welcher sorgt und sinnt?
Hier in der Krippe liegt ein Kind
Mit lächelnder Gebärde.
Wir grüßen dich du Sternenheld!
Willkommen Heiland aller Welt!
Willkommen auf der Erde!


Max von Schenkendorf (1783-1817)

 

 

 

Freitag, 25. Dezember 2020

Kalendergedicht, Freitag 25.Dezember 2020

 

 

WEIHNACHTEN

Einmal kommst du zu mir in der Abendstunde
Aus meinem Lieblingssterne weich entrückt
Das ersehnte Liebeswort im Munde
Alle Zweige warten schon geschmückt.
 
O ich weiss, ich leuchte wieder dann,
Denn du zündest meine weissen Lichte an.
 
«Wann?» – ich frage seit ich dir begegnet – «wann?»
Einen Engel schnitt ich mir aus deinem goldenen Haare
Und den Traum, der mir so früh zerrann.
O ich liebe dich, ich liebe dich,
Ich liebe dich!
 
Hörst du, ich liebe dich –
Und unsere Liebe wandelt schon Kometenjahre,
Bevor du mich erkanntest und ich dich.


Else Lasker-Schüler (1869-1945)

 

 

 

Donnerstag, 24. Dezember 2020

ANDREAS GRYPHIUS - ÜBER DIE GEBURT JESU

 

 

 

 


 

 

Haben Sie alle ein schönes Weihnachtsfest! :)

 ღ

 

 

 

 

„Lieber Freund,...

 



„Lieber Freund,

mir ist die ganze Zeit so nach Weihnachten zu Mute und mir ist so, als müsste ich zu Ihnen kommen und Ihnen das sagen. Es ist solch ein wunderbares Fest. Und ist eins, das lebt und wärmt. Es ist ein Fest für Mütter und Kinder, und auch für Väter. Es ist ein Fest für alle Menschheit. Es kommt über einen und legt sich warm und weich auf einen und duftet nach Tannen und Wachskerzen und Lebkuchenmännern und nach vielem, was es gab, und nach vielem, was es geben wird. Ich habe das Gefühl, dass man mit Weihnachten wachsen muss. Mir ist, als ob dann Barrikaden fallen, die man mühsam und kleinlich gegen so vieles und viele aufgebaut hat, als ob man weiter würde und das Gefäß allumfassender, auf dass darin jedes Jahr eine neue weiße Rose aufblühe und den andern zuwinkt und in sie hineinleuchtet und ihnen die Wange streicht mit ihrem Geschimmer und die Welt erfüllt mit Schönheit und Duft.“


(Paula Modersohn-Becker an Rainer Maria Rilke) 




Über dir der Himmel...

 

 


Über dir der Himmel
mit seinem Licht,
unter dir die Erde,
die dich trägt,
dazwischen ein Engel,
der dich küsst,
mitten ins Herz.

   
- Christa Spilling-Nöker -

 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

Noch einmal ein Weihnachtsfest,...

 

 


Noch einmal ein Weihnachtsfest,
Immer kleiner wird der Rest,
Aber nehm' ich so die Summe,
Alles Grade, alles Krumme,
Alles Falsche, alles Rechte,
Alles Gute, alles Schlechte –
Rechnet sich aus allem Braus
Doch ein richtig Leben raus.
Und dies können ist das Beste
Wohl bei diesem Weihnachtsfeste.

Theodor Fontane (1819-1898)
 

 

 

 

.... Ich möchte Purpurdecken spannen...

 

 


.... Ich möchte Purpurdecken spannen
und füllen möchte ich rings im Land
mit Balsamöl aus goldnen Kannen
die Blumenlampen bis zum Rand.
Sie sollen alle lange brennen,
bis wir. vom roten Tage blind,
uns in der blassen Nacht erkennen
und unsre Seelen - Sterne sind.

(Rainer Maria Rilke für Lou Andreas-Salomé)
 

 

 

 

Es kommt eine Zeit,...

 

 

Es kommt eine Zeit,
da lassen die Bäume
ihre Blätter fallen.
Die Häuser rücken
enger zusammen.
Aus den Schornsteinen
kommt Rauch.

Es kommt eine Zeit,
da werden die Tage klein
und die Nächte groß,
und jeder Abend hat
einen schönen Namen.

Einer heißt Hänsel und Gretel.
Einer heißt Schneewittchen.
Einer heißt Rumpelstilzchen.
Einer heißt Hans im Glück.
Einer heißt Sterntaler.

Auf der Fensterbank
im Dunkeln,
dass ihn keiner sieht,
sitzt ein kleiner Stern
und hört zu.

- Elisabeth Borchers -
 

 

 

 

Weihnachtszeit:

 

 



Weihnachtszeit: Nun machen wieder alle auf Engel komm raus …

Brigitte Fuchs (*1951)
 

 

 

 

Kalendergedicht, Donnerstag 24.Dezember 2020

 

 

Gelobet seist du, Jesu Christ


Gelobet seist du, Jesu Christ,
Daß du Mensch geboren bist
Von einer Jungfrau, das ist wahr,
Des freuet sich der Engel Schar.
Kyrioleis.

Des ewgen Vaters einig Kind
Jetzt man in der Krippen findt,
In unser armes Fleisch und Blut
Verkleidet sich das ewig Gut.
Kyrioleis.

Den aller Welt Kreis nie beschloß,
Der liegt in Maria Schoß,
Er ist ein Kindlein worden klein,
Der alle Ding erhält allein.
Kyrioleis.

Das ewig Licht geht da herein,
Gibt der Welt einen neuen Schein,
Es leucht wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht.
Kyrioleis.

Der Sohn des Vaters, Gott von Art,
Ein Gast in der Welte ward
Und führt uns aus dem Jammertal,
Er macht uns Erben in seim Saal.
Kyrioleis.

Er ist auf Erden kommen arm,
Daß er unser sich erbarm
Und in dem Himmel machet reich
Und seinen lieben Engeln gleich.
Kyrioleis.

Das hat er alles uns getan,
Sein groß Lieb zu zeigen an.
Des freu sich alle Christenheit
Und dank ihm des in Ewigkeit.
Kyrioleis.


Martin Luther (1483-1546)
 

 

 

 

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Kalendergedicht, Mittwoch 23.Dezember 2020

 

 


DER TRAUM


Ich lag und schlief, da träumte mir
ein wunderschöner Traum;
es stand auf unserm Tisch vor mir
ein hoher Weihnachtsbaum.

Und bunte Lichter ohne Zahl,
Die brannten ringsumher,
Die Zweige waren allzumal
Von goldnen Äpfeln schwer.

Und Zuckerpuppen hingen dran:
Das war mal eine Pracht!
Da gab´s, was ich nur wünschen kann
Und was mir Freude macht.

Und als ich nach dem Baume sah
Und ganz verwundert stand,
Nach einem Apfel griff ich da,
Und alles, alles schwand.

Da wacht´ ich auf aus meinem Traum.
Und dunkel war´s um mich:
Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,
Sag an, wo find´ ich dich?

Da war es just, als rief er mir:
„Du darfst nur artig sein,
Dann steh´ ich wiederum vor dir —
Jetzt aber schlaf nur ein!

Und wenn du folgst und artig bist,
Dann ist erfüllt dein Traum,
Dann bringet dir der Heil´ge Christ
Den schönsten Weihnachtsbaum.


Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

 

 

 

Dienstag, 22. Dezember 2020

Eine Anomalie...aus der Reihe "Flut & Flügel"

 

 


(...)
nur das Salz zwischen den Lippen ist ein Bote für das Wortlose
und unsere durchlässigen Herzen falten Flügel auf...

 

 

 

 


 





was du mir bist?

 

 


was du mir bist?
eine schneeflocke
im sonnenlicht

immer nur im
sonnen
licht

eine schneeflocke
im sonnen
licht

bist du
mir

- Rea Revekka Poulharidou -
 

 

 

 

ich schreibe dir kleine Kreuze...

 

 


ich schreibe dir kleine Kreuze
auf die Wangen
und forme dir aus Schnee
ein reines Herz

(aus Helga M. Novak | PATE III)

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

mit dir..

 

 


mit dir..

..lauf ich barfuß

durch den schnee
(die hände zum kranz geflochten)

..pflück ich blumen

aus dem eis
(die blicke ineinander geblüht)

..sehne ich schwalben

an den himmel
(das herz hat die spuren verweht)

meine worte. ich. wachse

..zu dir

.

(thepoemist)
 

 

 

 

VORWINTERLICHE VISION

 

 


VORWINTERLICHE VISION

aus wolkigen Fächern
knistern elfenbeinfarbene
Schuppen reigen dich ein
tief über Braue und Blick
bis dein Angesicht weht
wie ein stiller silberner Stern

- Friederike Mayröcker -

 

 

 

Ich übernehm die Verantwortun...

 

 


Ich übernehm die Verantwortung für das, was ich sage,
aber nicht für das, was Andere verstehen.

- unbekannt -

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 22.Dezember 2020

 

 

 
GLAUBEN


Lutherisch, Päpstisch und Calvinisch, diese Glauben alle drei
Sind vorhanden; doch ist Zweifel, wo das Christentum dann sei.


Friedrich von Logau (1604-1655)

 

 

 

Montag, 21. Dezember 2020

ANNETTE VON DROSTE HÜLSHOFF - CARPE DIEM !

 

 


Pflücke die Stunde, wär' sie noch so blaß,
Ein falbes Moos, vom Dunst des Moores naß,
Ein farblos Blümchen, flatternd auf der Heide;
Ach, einst von allem träumt die Seele süß,
Von allem, was, ihr eigen, sie verließ,
Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide.
 
In Alles senkt sie Blutes Tropfen ein,
Legt Perlen aus dem heilig tiefsten Schrein
Bewußtlos, selbst in grauverhängte Stunden;
Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor,
Du schaust vielleicht, wie durch Gewölkes Flor,
Nach Tagen, längst vergessen, doch empfunden.
 
Wer, der an seine Kinderzeit gedenkt,
Als die Vokabeln ihn in Not versenkt,
Wer möchte nicht ein Kind sein und sich grauen?
Ja, der Gefangene, der die Wand beschrieb,
Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb,
Die alten Sprüche einmal noch zu schauen?
 
Wohl gibt es Stunden, die so ganz verhaßt,
Daß, dem Gedächtnis eine Centnerlast,
Wir ihren Schatten abzuwälzen sorgen;
Dann selten schickt sie uns des Himmels Zorn,
Und meistens ist darin ein gift'ger Dorn,
Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen.
 
Drum, wer noch eines Blicks nach oben wert,
Der nehme, was an Liebem ihm beschert,
Die stolze wie die Stund' im schlichten Kleide;
Der schlürfe jeden stillen Tropfen Tau,
Und spiegelt drin sich nicht des Äthers Blau,
So lispelt drüber wohl die fromme Weide.
 
Freu dich an deines Säuglings Lächeln, freu
Dich an des Jauchzens ungewissem Schrei,
Mit dem er streckt die lustbewegten Glieder.
Wär' zehnmal stolzer auch, was dich durchweht,
Wenn er vor dir dareinst, ein Jüngling, steht,
Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder.
 
Freu dich des Freundes, eh zum Greis er reift,
Erfahrung ihm die kühne Stirn gestreift,
Von seiner Scheitel Grabesblumen wehen;
Freu dich des Greises, schau ihm lange nach,
In kurzem gäbst vielleicht du manchen Tag,
Um einmal noch das graue Haupt zu sehen.
 
O, wer nur ernst und fest die Stunde greift,
Den Kranz ihr auch von bleicher Locke streift,
Dem spendet willig sie die reichste Beute.
Doch wir, wir Toren, drängen sie zurück,
Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück,
Und unsre Morgen morden unsre Heute.


- Annette von Droste-Hülshoff -

 

 

 

 


 





Ich habe einen...

 

 


Ich habe einen ganz entsetzlich großen Fond an Liebeskraft in mir,
und jedesmal wenn ich auf die Straße trete, fange ich an,
irgend etwas, irgend jemand lieb zu gewinnen.

- Robert Walser -

 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

 

Seltenes Glück...

 

 


Seltenes Glück die Stille
Eines grauen Tages
Der keine Pläne
Auf die Reise schickt

Man geht so hindurch
Dort eine seltene Blüte
Ein verwegenes Wort
Manchmal ein Luftzug

Vergnügt sich an einem Satz
ordnet die Verführungen
Löst sich aus dem Klammergriff
Freut sich am prächtigen Grau

- Hermann Josef Schmitz -

 

 

 

Glück ist...

 

 

Glück ist, was jeder sich als Glück gedacht.


- Friedrich Halm -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 21.Dezember 2020

 

 


AUF DIE WINTERZEIT


Der Winter hat sich angefangen,
Der Schnee bedeckt das ganze Land,
Der Sommer ist hinweggegangen,
Der Wald hat sich in Reif verwandt.

Die Wiesen sind von Frost versehret,
Die Felder glänzen wie Metall;
Die Blumen sind in Eis verkehret,
Die Flüsse stehn wie harter Stahl.

Wolan, wir wollen von uns jagen
Durchs Feur das kalte Winterkleid;
Komt, laßt uns Holz zum Herde tragen
Und Kohlen dran, jetzt ist es Zeit.

Lasst uns den Fürnewein hergeben
Dort unten aus dem großen Fass!
Das ist das rechte Winterleben:
Ein' heiße Stub' und kühles Glas.


Johann Rist (1607-1667)
 

 

 

 

Sonntag, 20. Dezember 2020

RAINER MARIA RILKE - SCHNEE

 

 

Man hat nun doch beim lieben Gott auch hier für Weihnachten etwas Weißes bestellt, und er hats, weiß der Himmel, geliefert: Schnee. ›Schnee‹, wie paßt der Name dafür, mit dem ›Sch‹ schiebt man das Fenster auf und hats dann vor sich, weit, eben: ... nee - neige, neve, snjeg: weiß in allen Sprachen! Aber schon ehe ich die Augen aufthat am Morgen, wußte ichs im Gehör; selbst hier, wo’s immer still ist, – war eine andere Stille zu hören und ein Vogel schrieb auf ihr Weiß wie mit einer neuen Feder seine Meinung.


- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

 


 

 

 

 

 

IN DER STILLE DER NACHT

 

 


IN DER STILLE DER NACHT

In der Stille der Nacht,
fällt lautlos der Schnee,
wir halten uns die Hände - schweigend.
Welch ein Konzert!

- Li Gü- H`si -

 

 

 

Vielleicht,...

 

 


Vielleicht,
dass uns
etwas aufginge.
Einmal.
Per Zufall.
Für immer.

- Klaus Merz -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 


Ich öffne die Tür weit am Abend...

 

 


Ich öffne die Tür weit am Abend
häng noch die Laterne hinaus.
Die Traurigen solln mich heut finden
aufatmen, als wärn sie zuhaus.

Der Tisch wird geschmückt sein mit Blüten
Hab Wein und hab Wasser genug.
Die Sehnsucht trinkt mit unserm Bruder,
dem Schmerz, wieder aus einem Krug.

Ein offenes Ohr findet jeder,
kein Stuhl und kein Hocker bleibt frei.
Vielleicht unter denen, die zuhörn,
sitzt unerkannt Christus dabei.

- Gerhard Schöne -

 

 

 

Wir kamen zu der Einsicht...

 



Wir kamen zu der Einsicht, daß es müßig sei,
nach dem Sinn des Lebens zu fragen, denn das Leben ist keine Antwort,
das Leben ist die Frage und du selbst bist die Antwort.

- Ursula K. Le Guin -

 

 


Kalendergedicht, Sonntag 20.Dezember 2020

 

 


BRIEF ANS CHRISTKIND


Was ich mir wünsche?
Daß der, den ich liebe,
mich für das Weilchen, das ich noch lebe,
wirklich lieb hat,
und daß ich ihm das
immer leicht machen kann.

Vielleicht vergisst er mich
dann auch nachher
nicht ganz.


Christine Busta (1915-1987)

 

 

 

Samstag, 19. Dezember 2020

Kalendergedicht, Samstag 19.Dezember 2020

 

 


TAUET, HIMMEL, DEN GERECHTEN


Thauet, Himmel den Gerechten!
Wolken! regnet ihn herab!
Also rief in langen Nächten
Einst die Welt, ein weites Grab!
In von Gott verfluchten Gründen
Herrschten Satan, Tod und Sünden.
Fest verschlossen war das Thor
Zu des Heiles Erb’ empor.


Michael Denis (1729-1800)
 

 

 

 

Freitag, 18. Dezember 2020

DU SIEHST, ICH WILL VIEL

 

 

 
Du siehst, ich will viel.
Vielleicht will ich Alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.

Es leben so viele und wollen nichts,
und sind durch ihres leichten Gerichts
glatte Gefühle gefürstet.

Aber du freust dich jedes Gesichts,
das dient und dürstet.

Du freust dich Aller, die dich gebrauchen
wie ein Gerät.

Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät,
in deine werdenden Tiefen zu tauchen,
wo sich das Leben ruhig verrät.



- Rainer Maria Rilke -

 

 

 






Ich bin nicht, was ihr aus mir macht;...

 

 

 
Ich bin nicht, was ihr aus mir macht;
was ihr aus mir macht, bestätigt mir nur,
dass ich nicht bin,
was ihr wollt.

- G.-A. Goldschmidt -

 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas






Und es sind nur Augenblicke,...

 



Und es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken sehe ich tief in die Erde hinein. Und sehe die Ursachen aller Dinge wie die Wurzeln breiter, rauschender Bäume. Und sehe, wie sie alle aneinander greifen und sich halten wie Brüder. Und sie trinken alle aus einem Quell.
Und es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken sehe ich hoch in die Himmel hinein. Und sehe die Sterne wie stille, lächelnde Blüten dieser rauschenden Bäume. Und sie wiegen sich und winken einander zu und wissen, daß eine Tiefe ihnen Duft und Süße gibt.
Und es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken seh ich weit über die Erde hin. Und ich sehe, daß die Menschen starke und einsame Stämme sind, die wie breite Brücken von den Wurzeln zu den Blüten führen und ruhig und heiter die Säfte heben in die Sonne hinein.

- Rainer Maria Rilke -
 

 

 

„Man kann nur Philosoph werden,...

 

 



„Man kann nur Philosoph werden, nicht es sein. 

Sobald man es zu sein glaubt, hört man auf, es zu werden.“



- August Wilhelm von Schlegel -
 

 

 

 

„Unsere Sache ist es,...

 

 


„Unsere Sache ist es, den Funken des Lichts festzuhalten,
der aus dem Leben überall da hervorbricht,
wo die Ewigkeit die Zeit berührt.“

- Friedrich von Schiller -

 

 

 

Kalendergedicht, Freitag 18.Dezember 2020

 

 


FRAGMENT


Was ich bin, Geist! ich Geist! - so bin ich Gott!
Ich denk, ich will, ich bins! Wie Gott, durch den ich bin,
Einst Geister rief aus dem Geisternichts
Und Körper rief aus dem Körpernichts,
Ruf ich Gedanken aus dem Gedankennichts!
Ich wills! - es schafft sich Wirkung aus dem Nichts!
O Gott, was gabst du mir! - all deine Welt
Schaff ich dir in mir nach! -


Johann Gottfried Herder (1744-1803)

 

 

 

Donnerstag, 17. Dezember 2020

Kalendergedicht, Donnerstag 17.Dezember 2020

 

 


STROPHEN


Ich gehe langsam aus der Welt heraus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
und was ich war und bin und was ich bleibe,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretnes Land.

Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
als wär ich nie gewesen oder kaum.


Hans Sahl (1902-1993)

 

 

 

 


 





Mittwoch, 16. Dezember 2020

GOETHE - WANDERERS NACHTLIED

 

 

 
Der du von dem Himmel bist,
Alle Freud und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!



Über allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.



- Johann Wolfgang von Goethe  - 











Daß du nicht enden kannst,...

 

 


Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und was die Mitte bringt, ist offenbar
Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.

- Johann Wolfgang von Goethe -

 

 

 

ich sage dir was ich sehe manchmal...

 

 


ich sage dir was ich sehe manchmal
jedes blatt einzeln am baum oder
aufm kies kleine sicheln oder wie das
weitergeht mit mir: kurze aufenthalte
alles wieder zusammenpacken und fort

- sarah kirsch -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 




Ich hab den Abendstern...

 

 

 

Ich hab den Abendstern
Meinen Lieblingsschmuck
In einem Taxi verloren

Ich hab meinen Geliebten
Auf dem Spielplatz der Engel
Zwischen Mars und Frankreich verloren

Eine Regenzeit beginnt in meinen Augen
Die Raben tragen Trauer
Die jungen Vögel hören auf zu wachsen

Mein Liebster und der Abendstern
Waren ein - und derselbe:
Blumen streikt mit mir: hört auf zu lächeln!


(Claire Goll an Ivan Goll)
 

 

 

 

ICH SPRECHE DEINEN NAMEN

 

 


ICH SPRECHE DEINEN NAMEN



in den dunklen Nächten,
wenn die Sterne kommen
um aus dem Mond zu trinken
und es schlafen die Zweige
der verborgenen Kräuter.
Und ich fühle mich leer
von Leidenschaft und Musik.
Eine verrückte Uhr singt
tote alte Stunden.

Ich spreche deinen Namen,
in dieser dunklen Nacht,
und dein Name klingt
weiter entfernt denn je.
Weiter entfernt als all die Sterne
und mehr schmerzend als der sanfte Regen.

Werde ich dich noch einmal
so lieben wie damals? Welche Schuld
hat mein Herz?
Wenn sich der Nebel auflöst,
welche andere Leidenschaft erwartet mich?
Wird sie ruhig und rein sein?
Wenn meine Finger
den Mond zerpflücken könnten!



- Federico Garcia Lorca -

 

 

 

"Was nicht leicht entstellt ist,...

 




Was nicht leicht entstellt ist, entgeht der Wahrnehmung; woraus folgt,
daß die Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, die Überraschung,
das Erstaunen ein wesentlicher und charakteristischer Teil der Schönheit ist.

Charles Baudelaire (1821-1867)




Kalendergedicht, Mittwoch 16.Dezember 2020

 

 

TRAVEMÜNDE


Über uns Abend: schwaches Rosenflehn.
Unter uns Sand. Tote Muscheln. Tang.
Um uns Wind in finsterer Mäntel Wehn
Und Meergesang.

Unsere Nüster sog, die Lippe sann
Ruch von Salz und See und Nichtmehrsein,
Da das Wasser gnadelos hinverrann,
Bleich am Strande traurige Fische schrein.

Seine Lieder troffen von Ewigkeit,
Seine Stirnen schäumten glasiges Licht,
Seine Augen schauten, leer und weit,
Sinkender Welt Gesicht.

Unser zarter Tag entzitterte welk,
Hing wie Fledermäuse im Winterschlaf
Mit erstarrten Träumen am Gebälk
Schwarzen Leuchtturms. Und das Murmeln traf

Unsere Seelen, wallte, wurde groß
In der Brust dir, die umwuchert schwand
Unter Algenhaaren, nachtgrünem Moos.
Und du rührtest mich mit kühler Hand

Stillen Meeres . .



Gertrud Kolmar (1894-1943)

 

 

 

Dienstag, 15. Dezember 2020

ERICH FRIED - AUF DER HEIMFAHRT

 

 


Zwischen Niewieder
und Immerwieder
das Glück
oder das
was ihm ähnlich sieht
was zurückweicht
beim Näherkommen
aber winkt
als gäbe es es
(als gäbe es dich
als gäbe es mich
als gäbe es
ein Uns-einander-geben)

Es ist natürlich
leicht erkennbar
als Unglück
aber nur
sekundenlang
nur mit aufgerissenen Augen
die noch brennen
nach einem Blick
auf das Glück

Dann lockt es wieder
mit halbgeschlossenen Lidern
Und was so lockt
– meint man –
kann doch das Unglück
nicht sein
Das Unglück
oder das Glück
was immer es ist
hält seine schmale
zerbrechliche Hand
im Schoß
und hält seinen Schoß
in der Hand
und hat helles Haar
und spricht
oder singt
mit weicher Stimme
für Ohren
die sonst nichts mehr
hören wollen
als es


- Erich Fried -

 

 

 


 




Jedes Ding, das wir sehen,...

 



Jedes Ding, das wir sehen, sollten wir zum ersten Mal sehen, da es auch tatsächlich das erste Mal ist, daß wir es sehen. Und so ist jede gelbe Blume immer wieder eine neue gelbe Blume, selbst wenn es die wäre, die man als eben die gleiche wie gestern bezeichnen will. Aber weder ist der Mensch derselbe, noch ist die Blume dieselbe. Selbst das Gelb kann nicht dasselbe sein. Es ist schade, daß die Augen der Menschen nicht so beschaffen sind, dies zu begreifen. Wir könnten alle glücklich sein.

- Fernando Pessoa -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 




In uns sind alle Leidenschaften...

 

 


In uns sind alle Leidenschaften
und alle Laster
und alle Sonnen und Sterne,
Abgründe und Höhen,
Bäume, Tiere, Wälder, Ströme.
Das sind wir.
Wir erleben
in unseren Adern,
in unseren Nerven.
Wir taumeln.
Brennend
zwischen grauen Blöcken Häuser.
Auf Brücken aus Stahl.
Licht aus tausend Röhren
umfliesst uns,
und tausend violette Nächte
ätzen scharfe Falten
in unsere Gesichter.


- George Grosz -

 

 

 

........"Das ist doch das, ...

 



........"Das ist doch das, was uns im Leben immer wieder passiert: Man sieht ein Bild und denkt, das sei die Welt, vergisst aber, dass es ganz viele Bilder von der Welt gibt. Dass man auch in sich selbst ganz viele Bilder, Ideen, Sehnsüchte hat, die man nicht erfüllen konnte, an denen man aber immer noch hängt, wo man weinen könnte, weil man sie aufgeben musste. Der Mensch besteht eben nicht nur aus Chemie, sondern auch aus ganz viel Sehnsucht.
Und ich glaube, dass jeder so eine Dunkelphase in sich hat, dass jeder hin und wieder in so einem leeren, dunklen Raum sitzt, in dem die Bilder und Sehnsüchte weiterleben. Und die man vielleicht doch noch realisieren kann, wenn man diese Dunkelheit nicht ignoriert. "


(Christoph Schlingensief: "Ich weiß, ich war`s")

 

 

 

"Gehe vertrauensvoll in die Richtung deiner Träume!...

 

 


"Gehe vertrauensvoll in die Richtung deiner Träume! 

Führe das Leben, das du dir vorgestellt hast. 


Wenn du dein Leben vereinfachst, 

werden auch die Gesetze des Lebens einfacher".



- Henry David Thoreau -

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 15.Dezember 2020

 

 

WALDTRÄUME


Ich weiß nicht, ein süßes Sehnen
Erwacht in meiner Brust,
Und meinen Busen dehnen
Lenzträume und Maienlust.

Mir ist, als sollt' ich träumen
Im abendsonn'gen Wald,
Wenn unter schattigen Bäumen
Das Waldhorn rufend hallt.

Mir ist, als sollt' ich sinken
Ins abendfeuchte Gras,
Aus Blumenkelchen trinken
Des Taues Perlennaß;

Als sollt' ich über mir schauen
Eilender Vögel Flug,
Und hoch im sonnigen blauen
Äther der Wolken Zug;

Als sollt' ich lächelnd fragen:
Wohin sie so selig ziehn,
Und mich in süßem Behagen
Dehnen im weichen Grün.

Mir ist, als wären wieder
In tiefer Winternacht
Die alten Träume und Lieder
Im Herzen aufgewacht.

Wie konnt' es im Busen nur bleiben
So warm und frühlingslicht,
Und eisige Flocken treiben
Mir in das heiße Gesicht?


Eduard Ferrand (1813-1842)
 

 

 

 

Montag, 14. Dezember 2020

Du & ich . . . aus der Reihe "Flut & Flügel"

 

 

 

 


 

 

 

 

schneeflocken...

 

 

schneeflocken

legen sich

sanft

-

auf mein bild

von dir

-

eine spur im

schnee

-

kaum noch

zu sehen

.



- thepoemist -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 






UND DU?

 

 


UND DU?

Die Zeit war da, bevor ich war
ZEITLOS

Das Glück war da, Bevor ich war
SELIG

Und
Die Liebe, die Liebe ist der Grund
SÜCHTIG

Warum? Warum ich, ich bin!

Heute komme ich zu Dir
In Glück, durch Zeitwind
Weil, weil ich in Liebe bin.

Und
Und Du?


- Moon Suk -

 

 

 

NEBELTAG

 

 


NEBELTAG

Nun weicht er nicht mehr von der Erde,
Der graue Nebel, unbewegt;
Er deckt das Feld und deckt die Herde,
Den Wald und was im Wald sich regt.

Er fällt des Nachts in schweren Tropfen
Durchs welke Laub von Baum zu Baum,
Als wollten Elfengeister klopfen
Den Sommer wach aus seinem Traum.

Der aber schläft, von kühlen Schauern
Tief eingehüllt, im Totenkleid.
O welch ein stilles, sanftes Trauern
Beschleicht das Herz in dieser Zeit!

Im Grund der Seele winkt es leise,
Und vom dahingeschwundnen Glück
Beschwört in ihrem Zauberkreise
Erinnrung uns den Traum zurück.


Hermann Ritter von Lingg (1820-1905) 

 

 

 

Du darfst auf keinen Fall ...

 

 


Du darfst auf keinen Fall deinen inneren Frieden verlieren,
auch dann nicht, wenn die ganze Welt aus den Fugen
zu geraten scheint.

- Franz von Sales -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 14.Dezember 2020

 

 

Süßer die Glocken nie klingen


Süßer die Glocken nie klingen
Als zu der Weihnachtszeit
Sie ist, als ob Engelein singen
Wieder von Frieden und Freud'

Wie sie gesungen in seliger Nacht
Wie sie gesungen in seliger Nacht
Glocken mit heiligem Klang
Klinget die Erde entlang

O, wenn die Glocken erklingen
Schnell sie das Christkind hört
Tut sich vom Himmel dann schwingen
Eilet her nieder zur Erd'

Segnet den Vater, die Mutter, das Kind
Segnet den Vater, die Mutter, das Kind
Glocken mit heiligem Klang
Klinget die Erde entlang

Klinget mit lieblichem Schalle
Über die Meere noch weit
Dass sich erfreuen doch alle
Seliger Weihnachtszeit

Alle aufjauchzen mit eurem Gesang
Alle aufjauchzen mit eurem Gesang
Glocken mit heiligem Klang
Klinget die Erde entlang



Friedrich Wilhelm Kritzinger (1816-1890)

 

 

 


 

 

 

 

 

Sonntag, 13. Dezember 2020

Das Märchen vom Glück von Erich Kästner

 

 

 

 


 

 

 

 

 

Der Abend kommt von weit gegangen...

 

 


Der Abend kommt von weit gegangen
durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann preßt er seine Winterwangen
an alle Fenster lauschend an.

- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=12fdLdGNMJ0 

 

 

Foto: Tim Maas

 





DEZEMBERMORGEN

 

 


DEZEMBERMORGEN

Rauch, quellend über die Dächer,
vom Gegenlichte gesäumt,
Ich hab in die Eisenblumenfächer
deinen Namen geträumt.
Diesen Dezembermorgen
Weiß ich schon einmal gelebt,
offenbar und verborgen,
ein Wort auf der Zunge schwebt.
Wachsen mir in die Fenster
Farne, golden von Licht
zeigt sich im Schnee beglänzter
Name und Angesicht.
Muss ich dich jetzt nicht rufen,
weil ich nahe gespürt?
Über die Treppenstufen
hat sich kein Schritt gerührt.


- Günter Eich -

 

 

 

Ein wunderbares Zusammenleben kann entstehen, ...

 

 


Ein wunderbares Zusammenleben kann entstehen,
wenn die Menschen es erreichen,
den Abstand zwischen einander zu lieben,
denn nur so können sie einander ganz betrachten,
vor dem Hintergrund eines weiten Himmels.

- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

Kalendergedicht, Sonntag 13.Dezember 2020

 

 


ADVENT

Der Frost haucht zarte Häkelspitzen
Perlmuttergrau ans Scheibenglas.
Da blühn bis an die Fensterritzen
Eisblumen, Sterne, Farn und Gras.

Kristalle schaukeln von den Bäumen,
Die letzen Vögel sind entflohn.
Leis fällt der Schnee ... In unsern Träumen
Weihnachtet es seit gestern schon.

- Mascha Kaléko -
 

 

 

 

Samstag, 12. Dezember 2020

Kalendergedicht, Samstag 12.Dezember 2020

 

 


DIE MUSIK KOMMT



Nun zwängt, die sonst Musik die Töchter lehrte,
sich ins Schwarzseidene mit dem Krachkorsett;
und daß man Haydn, Bach und Koschat ehrte,
beweist man durch Gesang und am Spinett.

Nun schlagen wieder löwenmähnige Meister
mit ihren Pranken auf die Flügel ein,
und fiedelt jemand Violin, dann heißt er
Mischka und soll erst sieben Jahre sein.

Du siehst mich lächelnd an, Eleonore -
auch du, Geliebte, seist ein Singtalent?
Doch jach entfleucht durch meinem rechten Ohre,
was dein Sopran mir in das linke flennt.

Ach ja, der Herbst! Die Blätter werden gelber,
und jedes Mädchen kriegt ein hohes C,
und auch der Muhsikpädagoge selber
stund auf und tremolieretee ...

Du Stadt der Lieder, bist du nicht verwundert?
So jedes Jahr hast du um den Advent
Musikkonzerte Stücker achtzehnhundert -
doch mit Gewinn: nur sechseinhalb Prozent.



Kurt Tucholsky (1890-1935)

 

 

 

Freitag, 11. Dezember 2020

RILKE - NUN WEISS ICH EIGENTLICH ERST WAS WINTER IST

 

 

 

 


 

 

 

 

 

ERSTER SCHNEE

 

 

ERSTER SCHNEE



Fern, irgendwo im Himmelblau,

Ein sonderzartes Land.

Die Heiden weiß,

Besprossen lilaklare Primelblüten.

Blüten groß, offen erschlossen,

Augen, weite Augen, die an Tränen saugen,

Sanfte Augen, die ein Paradies behüten.

 

Mit weißen Fingern

Ein stilles Kind

Spielt mit den Primeln,

Lacht mit dem Wind.

 

Zaudernd auf schleichenden Zehen,

Über die Blüten,

Weiße Rudel

Von weißen Rehen.

 

Alles so licht und so eigen.

Einsam entblättert das Schweigen.



- Max Dauthendey -

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 






Ich will an deiner Seite...

 

 


Ich will an deiner Seite
still über beschneite Wege gehn
tief in das unbekannte Weiße
und alle Spuren sollen hinter uns verwehn.
Dir werden Flocken leicht im Haare hängen
in deinem Lächeln sich verfangen,
im blauen Atem glitzern und zergehn.
Du bist so leise,
als könntest du verstehn,
daß wir schon lange nur auf Flocken schreiten
und endlos fallend aus den Ewigkeiten
ins Grenzenlose sanft herniedergleiten.

- Ernst Penzoldt -

 

 

 

in meinen koffer...

 

 


in meinen koffer
packe ich weder
kleider noch schuhe

ich nehme mit
berg und tal
dass hinter meinem rücken
nichts geschieht

weder sommer noch winter


- Elisabeth Borchers - 

 

 

 

Eine Fußreise ohne Ende...

 

 


Eine Fußreise ohne Ende
eine Pilgerfahrt auf den Knien
alle Wege sind bestreut mit Dornen
die Flußläufe die ich durchqueren muß
habe ich selbst geweint
aber deine flüsternde Stimme trägt dich fort
und die beinah verwehte Fußspur deiner Liebe

- Friederike Mayröcker -

 

 

 

Die meisten Leute...

 

 

Die meisten Leute sind in  etwa so glücklich, 

wie sie es sich selbst vorgenommen haben.



Abraham Lincoln (1809-1865)

 

 

 

Kalendergedicht, Freitag 11.Dezember 2020

 

 

GEBET


Vergiß nicht, Kind, die Händchen dein
Im Morgenlicht und Abendschein
Still zum Gebet zu falten.

Den schönen, frommen Väterbrauch,
Mein liebes Kind, du sollst ihn auch
Für dich in Ehren halten.

Und bringt das Leben dir einmal
Nach ew`gem Ratschluß Leid und Qual,
Dann suche Gott von Herzen.

Nimm seine Liebeshand, mein Kind,
Daß sie sich lege leis und lind
Auf dich und deine Schmerzen.


Berhardine Schulze-Smidt (1846-1920)
 

 

 

 

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Kalendergedicht, Donnerstag 10.Dezember 2020

 

 


ANGINA PECTORIS

Ich weiß vor Angst nicht ein und aus,
vor Angst nicht aus und ein.
Einst war`s ein Glück, nun ist`s ein Graus;
Und was wird morgen sein?

Komm, Abend, eh es Morgen wird,
und bette mich zur Nacht.
Mir scheint, ich habe mich geirrt
Und alles falsch gemacht.

Komm, Abend, gib Gelassenheit.
Geh, Welt, laß uns allein.
Es war einmal!...o Mutter Zeit!
Und wird nie wieder sein.


Peter Gan (1894-1974)
 

 

 

 

Mittwoch, 9. Dezember 2020

RAINER MARIA RILKE - GABEN

 

 


Das ist mein Streit:
Sehnsuchtsgeweiht
durch alle Tage schweifen.
Dann, stark und breit,
mit tausend Wurzelstreifen
tief in das Leben greifen -
und durch das Leid
weit aus dem Leben reifen,
weit aus der Zeit!


- Rainer Maria Rilke -

 

 

 


 




Die Maßeinheit...

 

 


Die Maßeinheit für den Mut ist ein Herz.

- Franz Hannemann -

 

 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

"Ich trete in die dunkelblaue Stunde -...

 

 


"Ich trete in die dunkelblaue Stunde -
Da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
Und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
Und eine Schale später Rosen – du!

Wir wissen beide jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit vorgeschritten
Und füllt den Raum und denkt sich selber zu
Die Stunde - nichts gehofft und nichts gelitten -
Mit ihrer Schale später Rosen - du."


- Gottfried Benn -

 

 

 

LEUCHTENDE TAGE

 

 


LEUCHTENDE TAGE

Ach, unsre leuchtenden Tage
Glänzen wie ewige Sterne.
Als Trost für künftige Klage
Glüh'n sie aus goldner Ferne.

Nicht weinen, weil sie vorüber!
Lächeln, weil sie gewesen!
Und werden die Tage auch trüber,
Unsere Sterne erlösen!

Ludwig Jacobowski (1868-1900)

 

 

 

Während des Denkens...

 

 

Während des Denkens darf man weder einer Nation, 

noch einer Konfession angehören.



Emanuel Wertheimer (1846-1916) 




Kalendergedicht, Mittwoch 9.Dezember 2020

 

 

WINTERBILD


Die Morgennebel wallen nieder,
Es hebt der Wald sich aus dem Duft,
Kein Hälmchen wankt, am Halsgefieder
Des Vogels spielt kein Hauch der Luft.

Keine Laut erschallt: es würden fliegen
Die lockern Flocken von dem Baum,
Die auf den kleinen Aestchen liegen,
Und auf schlafmüder Vögel Flaum.

Nur schreitet einsam, scheu und leise
Und sieht sich um das junge Reh,
Behutsam auf des Waldbachs Eise,
Und drückt die Spur in dünnen Schnee.

Der Jäger, der weit drüben lauert,
Horcht nur der Waldestille zu,
Und setzt, da's ihm zu lange dauert,
Den schon gespannten Hahn in Ruh.


Otto Friedrich Gruppe (1804-1876)
 

 

 

 

Dienstag, 8. Dezember 2020

DER DEZEMBER

 

 


Das Jahr ward alt. Hat dünnes Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.

Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.

Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, dass man’s versteht.

Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.

Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.

Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt das Erz und spricht:
„Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht.“


Erich Kästner (1899-1974)

 

 

 


 





Kannst du...

 

 


Kannst du
Schauen,
Ohne ein Urteil
Zu fällen?

- Mooji -


 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

 

 

"Es ist nicht mehr...

 

 


"Es ist nicht mehr
diese
zuweilen mit dir
in die Stunde gesenkte
Schwere. Es ist
eine andere.

Es ist das Gewicht, das die Leere zurückhält,
die mit-
ginge mit dir.
Es hat, wie du, keinen Namen. Vielleicht
seid ihr dasselbe. Vielleicht
nennst auch du mich einst
so."


- Paul Celan -

 

 

 

vor meiner tür...

 

 


vor meiner tür
wartet die ungewissheit
ich habe sie
um einlass gebeten
wir reden
wie zwei alte bekannte
und ich behalte sie
gewissenhaft im blick


- Hermann Josef Schmitz -



 

Es ist ein trauriger Zustand, ...

 

 


Es ist ein trauriger Zustand, 

wenn die tadelnden Worte ehrlicher Kritiker 

taube Ohren finden.



Rudolf Tyrolt (1848-1929)
 

 

 

 

Kalendergedicht, Dienstag 8.Dezember 2020

 

 


So unvermeidbar ein Geschick dir scheine,
neig ihm dein Haupt in frommer Demut nie.
Was heute sich des Schicksals Maske lieh,
war gestern vieler  Möglichkeiten eine,
und wird heut ohne dich die Wahl gefällt -
von morgen die ist dir anheimgestellt.


Arthur Schnitzler (1862-1931)

 

 

 

Montag, 7. Dezember 2020

Nur eine leise Melodie...aus der Reihe "Flut & Flügel"

 

 

(...)

Kein Lied, nur eine leise Melodie in der Krümmung deiner Lippen...

 

 

 

 


 




WORTE

 

 
WORTE


Wenn meinen Worten die Silben ausfallen vor Müdigkeit
und auf der Schreibmaschine die dummen Fehler beginnen
wenn ich einschlafen will und nicht mehr wachen zur täglichen Trauer
um das was geschieht in der Welt und was ich nicht verhindern kann

beginnt da und dort ein Wort sich zu putzen und leise zu summen
und ein halber Gedanke kämmt sich und sucht einen anderen
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht
und den halben Gedanken an der Hand nimmt und sagt zu ihm: Komm

Und dann fliegen einigen von den müden Worten
und einige Tippfehler die über sich selber lachen
mit oder ohne die halben und ganzen Gedanken
aus dem Londoner Elend über Meer und Flachland und Berge
immer wieder hinüber zur selben Stelle

Und morgens wenn du die Stufen hinuntergehst durch den Garten
und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst
kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören
ein wenig verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren
und immer ganz dumm vor Glück daß sie wirklich bei dir sind


- Erich Fried -





Foto: Tim Maas






Es bleibt immer ...

 

 


Es bleibt immer eine Umarmung
zurück

die keiner von beiden mehr
kennt

auf die einer noch
wartet

AM ENDE


- Frederike Frei -

 

 

 

hingegen du bleibst...

 

 
hingegen du bleibst
in den stummen stunden
nebelgrauer tage
ton aus schwarzen rillen
heiliger atem der luft
bleibst du mein schutz
du ungeschriebenes wort
gedankenbild hinter der stirn
bleibst du mir hingegen
in der tropfenden zeit
selbstbestimmung verlierend
aber unbeschwerte erinnerung
angehaltene farben
ein ungenauer plan
wirst du mir bleiben
in den stummen stunden
auch morgen wider die zeit


- Hermann Josef Schmitz -

 

 

 

NACHTS

 

 


NACHTS


ein Mal
ein Mal nur
deinen Namen flüstern
die Augen schließen
eine Geschichte
neu erfinden

ich lege ab
jedes Wort
jede Silbe
jeden Laut

hier
im Palast der Träumenden
nehme ich dich
in die Hand
und fliege mit dir
durch die
Nacht

du flüsterst
meinen Namen
legst mir die Sterne
in den Mund

unsere Flügel brennen
über dem Wasser
dein Atem so nah
in meinem
zu Hause


- Rea Revekka Poulharidou -
 

 

 

 

ich kann dir nur erzählen...

 

 

ich kann dir nur erzählen
dass ich an dich dachte,
als der wind eine tüte
durch die straße trieb

wie er sie wild hinauf
blies doch die tüte
im zickzack zurück
zu boden schwebte

wie sie sich treiben ließ
in alle richtungen schielte
doch nur umher trudelte
und sich im kreis drehte

ich kann dir nur erzählen
dass ich an mich dachte
als ich sehr lange dort stand
und der wind sich nicht legte


© 2013 — Freitag ist Rosa

 

 

 

Die Welt verändert sich...

 

 


Die Welt verändert sich durch dein Vorbild, nicht durch deine Meinung.

- Paulo Coelho -

 

 

 

Kalendergedicht, Montag 7.Dezember 2020

 

 


Bei diesem grausen Windestoben
Ist alle Poesie zerstoben,
Und Äolus mit offnen Schlauch
Läßt weder Schiff noch Lied vom Stapel;
Deshalb vergib dem Dichter auch,
Gewöhnt an jeden Zephirhauch,
Der lieblich tändelt um Neapel,
Wenn er, auf dein verehrt Geheiß
Bei diesem wilden Schneegeflocker
Als eingeferchter Stubenhocker
Nichts Beßres dir zu sagen weiß.


August von Platen (1796-1835)

 

 

 

Sonntag, 6. Dezember 2020

RAINER MARIA RILKE - AN DER ECKE

 

 


Der Winter kommt und mit ihm meine Alte,
die an der Ecke stets Kastanien briet.
Ihr Antlitz schaut aus einer Tücherspalte
froh und gesund, ob Falte auch bei Falte
seit vielen Jahren es durchzieht.

Und tüchtig ist sie, ja, das will ich meinen;
die Tüten müssen rein sein, und das Licht
an ihrem Stand muss immer helle scheinen,
und von dem Ofen mit den krummen Beinen
verlangt sie streng die heiße Pflicht.

So trefflich schmort auch keine die Maroni.
Dabei bemerkt sie, wer des Weges zieht,
und alle kennt sie - bis zum Tramwaypony;
sie treibts ja Jahre schon, die alte Toni ...
Und leise summt ihr Herd sein Lied.


- Rainer Maria Rilke -

 

 

 

 


 





ihr sollt nicht eure flügel falten, ...

 

 


ihr sollt nicht eure flügel falten,
damit ihr durch türen kommt...

- khalil gibran -
 

 

 

 

Foto: Tim Maas

 

 

 

 

VON DER NEUGIERDE

 



VON DER NEUGIERDE

Wenn meine Mutter einen Roman liest, macht sie das so : Erst liest sie die ersten zwanzig Seiten, dann den Schluss, dann blättert sie in der Mitte, und nun nimmt sie erst das Buch richtig vor und liest es von Anfang bis Ende durch. Warum macht sie das? Sie muss, ehe sie den Roman in Ruhe lesen kann, wissen, wie er endet. Es lässt ihr sonst keine Ruhe. Gewöhnt euch das nicht an! Und falls ihr es schon macht, gewöhnt es euch wieder ab, ja?
Das ist nämlich so, als wenn ihr vierzehn Tage vor Weihnachten in Mutters Schrank stöbert, um vorher zu erfahren, was ihr geschenkt kriegt. Und wenn ihr dann zur Bescherung gerufen werdet, wisst ihr schon alles. Ist das nicht schrecklich? Da müsst ihr dann überrascht tun, aber ihr wisst ja längst, was ihr bekommt, und eure Eltern wundern sich, warum ihr euch gar nicht richtig freut. Euch ist das Weihnachtsfest verdorben, und ihnen auch.
Und als ihr heimlich im Schrank herumsuchtet und die Geschenke vierzehn Tage früher fandet, hattet ihr, vor lauter Angst, überrascht zu werden, auch keine rechte Freude. Man muss abwarten können. Die Neugier ist der Tod der Freude.


(Erich Kästner - Pünktchen und Anton - Die fünfte Nachdenkerei)