Sonntag, 15. November 2020

Kalendergedicht, Sonntag 15.November 2020

 

 

FRÜHE DÄMMERUNG

Die letzten müden Liebesworte irren
Wie Abendfalter, die mit schweren Flügen
In Dämmerung und Träumen sich verwirren.

Und trunken niedersinkend ist's, als trügen
Ein zartes Leuchten sie um Deine Wangen
Und Sänftigung zu Deinen Atemzügen.

Ich seh' das Glück an Deinen Lippen hangen
Wie eine Blüte, warmer Nacht entsprungen –
Indes ich dumpf, in namenlosem Bangen,

Dem Gang der Stunden lausche, die verschlungen
Zu dunklen Ketten in das Leere gleiten,
Vom harten Glockenschlag der Nacht umklungen.

Ich hör im Takt ihr endlos gleiches Schreiten
Auf heißem Lager sinnlos aufgerichtet,
Hinhorchend in die nachtbeschwerten Weiten,

Die schon der erste Schein der Frühe lichtet.


Ernst Maria Richard Stadler (1883-1914)