Montag, 11. Mai 2020

Kalendergedicht, Sonntag 10.Mai 2020




O MUTTER GUT


„Nichts kommt dem Frühlingswinde gleich,
Er ist so sanft, so mild und weich,"
So spricht man wohl und schlürft ihn ein
Und freut sich recht am Sonnenschein.
Und doch, ich weiß, was linder tut
Wie Maienwind und Wasserflut,
Was weicher noch denn Seidenhand —
Es ist die liebe Mutterhand.

Flammt auf der helle Abendstern,
Wie hängt manch Auge dran so gern
Und denkt wohl bei der Sterne Licht:
Nein, hell're Sonnen gibt es nicht.
Und doch, ich kenn' noch schöneren Glanz
Mit ewig klarem Sternenkranz,
Daraus ich immer Trost mir saug' —
Es ist das liebe Mutteraug'.

Wohl schließen auf der Lebensbahn
Sich Blumen deinem Herzen an,
Sie duften schön, blühn blau und rot,
Doch morgen sind sie welk und tot.
Nur eine Blume bleibt getreu,
Die spendet steten Duft aufs neu,
Sie bleibt sich gleich in Lust und Schmerz:
Es ist das liebe Mutterherz.

O Mutterauge, Mutterhand,
Wer deinen Segen erst erkannt,
Geht auf des Lebens schwanken Steg
Doch immerfort den rechten Weg.
Und sank die Sonn', die Glück dir schien,
Dann flüchte zu der Mutter hin,
Bist nimmer arm, die ganz allein,
Nennst eine Mutter du noch dein.


Johanna Ambrosius (1854-1939)