Mittwoch, 9. Mai 2018

Kalendergedicht, Mittwoch 9.Mai 2018




IM BESTIENHAUS


Ich gleite, rings umgittert von den dunklen Tieren,
Durchs brüllende Haus am Stoß der Stäbe hin und her,
Und blicke weit in ihren Blick wie weit hinaus auf Meer
In ihre Freiheit ... die die schönen nie verlieren.

Der harte Takt der engen Stadt und Menschheit zählt
An meinen Zeh'n, doch lose schreiten Einsamkeiten
Im Tigerknie, und seine baumgestreiften Seiten
Sind keiner Straße, nur der Erde selbst vermählt.

Ach ihre reinen heißen Seelen fühlt mein Wille
Und ich zerschmelze sehnsuchtsvoller als ein Weib.
Des Jaguars Blitze gelb aus seinem Sturmnachtleib
Umglühn mein Schneegesicht und winzige Pupille.

Der Adler sitzt wie Statuen still und scheinbar schwer
Und aufwärts aufwärts in Bewegung ungeheuer!
Sein Auftrieb greift in mich und spannt mich in sein Steuer –
Ich bleibe still, ich bin von Stein, es fliegt nur er.

Es steigen hoch der Elefanten graue Eise,
Gebirge, nur von Riesengeistern noch bewohnt:
Von Wucht und Glut des wilden Alls bin ich umthront
Und ich steh eingesperrt in ihrem freien Kreise.


Alfred Wolfenstein (1883-1945)