„Sammle dir jeden Tag etwas Ewiges,
das dir kein Tod raubt,
das den Tod und das Leben dir lieb-
licher jeden Tag macht.“
Johann Caspar Lavater (1741-1801)
Gesammelte Lyrik
„Sammle dir jeden Tag etwas Ewiges,
das dir kein Tod raubt,
das den Tod und das Leben dir lieb-
licher jeden Tag macht.“
Johann Caspar Lavater (1741-1801)
Die unsichtbare Welt
Wenn im Hauch der Abend kühle
Hell der Tau am Halme bebt
Und mit sanfterem Gefühle
Jede Menschenbrust sich hebt:
Dann, o wie labend,
Dämmernd erhellt,
Weihst du den Abend,
Heimliche Welt.
Elisa von der Recke (1754-1833)
Herbst
Der Herbst schert hurtig Berg und Tal
Mit kalter Schere ratzekahl.
Der Vogel reist nach warmer Ferne;
Wir alle folgtem ihm so gerne.
Das Laub ist gelb und welk geworden,
Grün blieb nur Fichte noch und Tann'.
Huhu! Schon meldet sich im Norden
Der Winter mit dem Weihnachtsmann.
Joachim Ringelnatz (1883-193)
Heller Morgen
Als ich schläfrig heut erwachte,
-Und es war die Kirchenzeit-
Hörte ich’s am Glockenschlage,
Dass es über Nacht geschneit.
Denn in meinem hellen Zimmer
Klang so hell der Glockenschlag,
Dass ich schon im Traume wusste:
Heute wird ein heller Tag.
Als ich froh die Läden aufstieß,
Trug die Welt ein weißes Kleid, -
Meine ganze Seele wurde
Glänzend weiß und hell und weit.
Börries von Münchhausen (1874-1945)
Stille
Ich kenn eine Stille …
Tief, so tief,
Dass ich sie hör aus Fernen weit
Gleich einem Geisterklopfen…
Tief, so tief,
Dass ich es fühl, aus Erdenbann befreit,
Wie die Minuten tropfen
Ins Meer der Ewigkeit.
Fritz Lemmermayer (1857-1932)
Ich hab' so lieb den Blick der stillen Güte
Ich hab' so lieb den Blick der stillen Güte,
Der alle Schroffheit der Natur besiegt,
Den Sonnenstrahl aus göttlichem Gemüte,
Vor dem, wie Rauch, das Häßliche versiegt.
Ich hab' so lieb die lilienweise Stirne
Die zwingend beugt des stolzen Mannes Knie,
Das milde Licht um eines Hauptes Firne,
Die stumme Macht der innern Harmonie.
O Frauenmacht, wenn Du Dich recht verständest
Und nie begehrtest über Dich hinaus,
Den Herrscherstab im Geist der Stille fändest -
Wir wären besser, heil'ger wär' das Haus!
Hugo Oelbermann (1832-1898)
Unendliches Glück
Sonn’ aller Sonnen,
Lacht mir Dein Licht?
Wonn’ aller Wonnen,
O blende mich nicht!
Erjauchzend schweb’ ich
Ob Zeit und Raum;
Gedoppelt leb’ ich
Im wachsten Traum!
Glück unergründlich,
Wie’s keines gibt,
In Tränen nur kündlich:
Geliebt, geliebt!
Alfred Formey (1844-1901)
Traum vom Fliegen
Und wieder mir träumte, ich wäre geflogen,
und diesesmal war es doch sicherlich wahr,
denn ich hatte so leicht wie die Luft ja gewogen
und hatte die Knie an den Körper gezogen,
und es ging wie im Flug, im beherztesten Bogen
hoch über der schwergewichtigen Schar,
es war keine Täuschung, ich war nicht betrogen,
es flogen die Stunden, die Tage, das Jahr.
Mit fliegenden Hoffnungen vollgesogen,
so wach’ ich mit müderen Gliedern auf.
Zu Lande ist Leben; und angelogen,
vom leichtesten Trug an der Nase gezogen,
aus allen Himmeln zur Erde geflogen,
da lieg’ ich, da liegen die Lügen zuhauf.
Und trotzdem bleib’ ich dem Traume gewogen,
so läuft er sich leichter, der Lebenslauf.
Karl Kraus (1874-1936)
Über kalten dunklen Wassern
schattete mit schwarzen Seelen
einsam unsre Todesbarke.
Rot im feuchten Nebel glühte
vorn am Bug die letzte Fackel,
vor uns her schwamm blutrot-trunken
düstren Widerscheins das Wasser.
Über kalten dunklen Wassern
standen graue Nebelwände,
und noch einmal press’ ich schweigend
deine blassen frierenden Hände.
Über schwarzen Todesfluten
segeln wir auf unserem Sarge,
Sturm und Nacht kommt bald herauf,
und dies ist die dunkle See
alter Klippen, alter Riffe.
Müde sinken meine Lider
von zu langem Wachen nieder, —
lass uns ruhen, lass uns schlafen,
und wohin wir treiben,
überall ist unser Hafen.
Schlafe Geliebte! die dunklen Stunden,
Stunden der Nacht gehören dem Schlummer, —
in weißen Kissen, vom Mohne umbunden
verträume die Sorge, die Furcht und den Kummer.
Aus der Sturm- und Winternächte
kalten und toten Finsternissen
tragen dich schlafend in deinen Kissen
heimliche, uralt heilige Mächte.
Julius Hart (1859-1930)
Sehnsucht
Die Glocken rufen um Mitternacht;
Die Sehnsucht ist großäugig aufgewacht
Und redet sacht.
Sie wandert in Nächten und ruht am Tag -
Ihr Herz hat einen fiebernden Schlag,
Daß ich tief erschrak.
Sie ist wie ein irregewandertes Kind -
Um die Stirn trägt sie ein Dornengewind,
Und schluchzt und sinnt.
Nun ward so ruhelos mein Heerd,
Da sie um Mitternacht eingekehrt,
Und mich weinen gelehrt.
Sie löste vom Haupt sich ein Dornenreis,
Und drückt' es auf mein Herze leis,
- Das blutet nun heiß ... -
Alberta von Puttkamer (1849-1923)
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kam nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frisst,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
Wilhelm Busch (1832-1908)
Still
In Waldes Dunkel, an Baches Borden,
die jubelnden Sänger sind still geworden.
Und mir auch erging es wundersam: -
Als meinem Leben der Sommer kam
und die Rosendüfte mein Haupt umfingen,
da wollt ich singen und konnt nicht singen.
Von der Lippe flutet das Lied zurück -
im namenlosen, im stummen Glück
nur kann ich vor Gott die Seele neigen,
nur lieben und schweigen.
Klara Müller-Jahnke (1860-1905)
Trost fürs Alter
Komm, dass ich dein teures Haupt
Kränzen mag mit roten Eichen;
Schön, o Liebling, dich umlaubt
Dieses Herbstesabschiedszeichen.
Veilchen auch, obgleich bescheiden,
Mehr noch stehn dir Rosen an:
Wie wird dich, geliebter Mann,
Erst der Schnee des Alters kleiden!
Ricarda Huch (1864-1947)
Welke Blätter
Plötzlich hallt mein Schritt nicht mehr,
sondern rauschet leise, leise,
wie die tränenvolle Weise,
die ich sing', von Sehnsucht schwer.
Unter meinen müden Beinen,
die ich hebe wie im Traum,
liegen tot und voll von Weinen
Blätter von dem großen Baum.
24.9.1939
Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)
Das ist die Sehnsucht: Wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: Leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die Einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik —
trunken schwamm’s in die Dämmrung hinaus…
Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
— Hörte Jemand ihr zu?…
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
Novembertag
Nebel hängt wie Rauch ums Haus,
drängt die Welt nach innen;
ohne Not geht niemand aus;
alles fällt in Sinnen.
Leiser wird die Hand, der Mund,
stiller die Gebärde.
Heimlich, wie auf Meeresgrund
träumen Mensch und Erde.
Christian Morgenstern (1871-1914)
Ich weiß nicht, wie man die Liebe macht
Wie ich weiss, „macht“ man die Liebe nicht.
Sie weint bei einem Wachslicht im Dach.
Ach, sie wächst im Lichten, im Winde bei Nacht.
Sie wacht im weichen Bilde, im Eis
des Niemals, im Bitten: wache, wie ich.
Ich weiss, wie ich macht man Liebe nicht.
Unica Zürn (1916-1970)
Allerseelen
I
Rings liegt der Tag von Allerseelen
voll Wehmut und voll Blütenduft,
und hundert bunte Lichter schwelen
vom Feld des Friedens in die Luft.
Sie senden Palmen heut und Rosen;
der Gärtner ordnet sie mit Sinn -
und kehrt zum Eck der Glaubenslosen
die alten, welken Blumen hin.
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Zwei Schweigen
Dieses Schweigen aber ist wie tot!
Denn es hat den Herbst in sich begraben,
Daß sich nur die Augen lange laben
An der Früchte Gelb und Gold und Rot.
Dieses Schweigen aber lebt, und groß!
Denn es hat in sich hineingezogen
Aller Weiten Laut und Gräserwogen,
Und die seligen Lerchen sind geflogen
Alle hin in seinen milden Schoß.
Wilhelm Weigand (1862-1949)